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Gebrauchsanweisung für China (German Edition)

Gebrauchsanweisung für China (German Edition)

Titel: Gebrauchsanweisung für China (German Edition)
Autoren: Kai Strittmatter
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Arten von Mangel an Kindespflicht gibt es. Am schlimmsten ist es, keine Nachkommen zu haben.« Wer kinderlos bleibt, versündigt sich an den Eltern.
    Und so wurde China zum größten Volk der Erde.

 

Visitenkarte
     
     
    In China kommen viele zweimal zur Welt: einmal im Wochenbett der Mutter, ein zweites Mal beim Druck ihrer ersten Visitenkarte. Ohne die V. ist man praktisch niemand bzw. höchstens Bauer oder Ausländer. Das Kärtchen gehört zu Beamten und Geschäftsleuten wie das unter die Achsel geklemmte Herrenhandtäschchen, der Richard-Clyderman-Jingle als Rufton auf dem Mobiltelefon und das regelmäßige Atmen. Wird in unfassbaren Mengen zu jedem Anlass und oft auch ohne einen solchen an sämtliche im Raum anwesenden Leute verteilt, wobei die Höflichkeit dem Überreicher stets das Einklemmen zwischen Daumen und Zeigefinger beider Hände gleichzeitig vorschreibt. Anthropologen erklären das Phänomen unter anderem mit der Bedeutung von Hierarchien in der konfuzianischen Gesellschaft: Wie ich mich verhalten muss, weiß ich erst dann, wenn klar ist, wen ich vor mir habe: Steht er über mir, unter mir, oder kann er mir den Buckel runterrutschen? So sind die Titel oft wichtiger als der Name, nicht selten findet man ein halbes Dutzend davon auf einer Karte.
    Schmuckstücke aus meiner Sammlung: 1. Die V. einesSchuldirektors aus der Provinz, der es in ein paar Zeitungsartikel im Ausland geschafft hatte. Für den Fall, dass sein Gegenüber noch nie etwas von ihm gehört haben sollte, stellt ihn seine V. vor als »weltberühmte Persönlichkeit«. 2. Die V. eines gewissen Danba Wangxi aus der »Autonomen Region Tibet«, die den Herrn ausweist als gleich dreifachen Lebenden Buddha . Besagter Buddha vermerkt auf seiner Karte zusätzlich noch fünf weltliche Titel und Ämter (»Abgeordneter der politischen Konsultativkonferenz der Kommunistischen Partei des Kreises Ganzi« etc.), sodass weder für Namen noch für Telefonnummer Platz blieb: Beides kritzelte er beim Abschied auf einen Schmierzettel.

 

Das Reich der Mitte.
Oder: Sich selbst genug sein
     
     
    Wahrscheinlich weil er schon immer da war, wo alle anderen hinwollen, nämlich in der Mitte der Welt, hat sich der Chinese nie groß um Orientierung gekümmert. Das bringt Fremde manchmal in Verlegenheit. Nehmen wir an, Sie haben sich verlaufen und fragen den Alten am Straßenrand nach dem Weg. »Links runter«, sagt der freundlich und ohne zu zögern. Was tun Sie in diesem Fall? Richtig: Sie fragen den Nächsten. Unzählige Reisende vor Ihnen haben die Erfahrung gemacht, dass es sich nicht empfiehlt, sofort links die Straße hinunterzugehen. Es gilt vielmehr die Regel: Lauf erst dann los, wenn dich mindestens drei Leute in die gleiche Richtung schicken (gemäß dem schönen chinesischen Sprichwort »Drei Leute erst machen einen Tiger«. Es geht zurück auf einen König, der sagte, er glaube erst dann, dass ein Tiger in der Stadt sei, wenn ihm dies drei Leute unabhängig voneinander berichteten). Warum diese Vorsicht? Weil man in China die erstaunliche Entdeckung macht, dass a) noch immer viele Leute zufrieden ihr Leben durchmessen, ohne auch nur die geringste Ahnung zu haben von der Welt außerhalb ihres Blocks, ihrer Fabrik oder ihres Viertels, und dass b) ein großer Teil von ihnen nieim Leben zugeben würde, er wüsste die Antwort auf Ihre Frage nicht. Lieber sagen viele »links« als »weiß nicht«. Statistisch gesehen, behalten sie damit in der Hälfte der Fälle ja auch recht. Die Unwissenheit über die Welt hinter dem unmittelbaren eigenen Erfahrungshorizont ist ein faszinierendes Phänomen. Es ist noch nicht lange her, da schloss in Deutschland ein Kollege von mir Freundschaft mit einem chinesischen Ingenieur, der für seine Firma im Ruhrgebiet ein altes Stahlwerk in seine Einzelteile zerlegte, um es nach Schanghai zu verschiffen, und nahm dessen Einladung zu einer gemeinsamen Chinareise an. Der Chinese, ein Herr Cheng, stammte aus Sichuan, hatte aber sieben Jahre in Schanghai gearbeitet und ein Jahr in Deutschland gelebt. »Ich dachte, er könnte mir Schanghai zeigen und hernach mein Führer in China sein«, sagte mein Kollege hinterher. Recht schnell stellte sich heraus, dass Herr Cheng – ein freundlicher, intelligenter, belesener Mann von Mitte dreißig – sich schon in Schanghai kaum zurechtfand: Während der Jahre, in denen er dort gelebt hatte, war er offenbar nie aus seinem Stahlwerk herausgekommen. Nachdem sie einige Tage durch die Stadt
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