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Gebrauchsanweisung für China (German Edition)

Gebrauchsanweisung für China (German Edition)

Titel: Gebrauchsanweisung für China (German Edition)
Autoren: Kai Strittmatter
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geirrt waren und Cheng schließlich Tickets für den falschen Zug gekauft hatte, nahm mein deutscher Kollege, der noch nie in China gewesen war und kein Wort Chinesisch spricht, die Sache in die Hand: Er kramte seinen Reiseführer hervor und zeigte seinem Freund China. Die größte Überraschung bereitete er Herrn Cheng, als die beiden gegen Ende ihrer Reise schon ein paar Tage in der Provinz Yunnan am Fuß des Himalajas weilten – viele tausend Kilometer von Schanghai entfernt – und mein erstaunter Bekannter nach einem Blick auf die Landkarte seinem chinesischen Freund eröffnete, hinter der nächsten Bergkette, nur eine halbe Tagesreise entfernt, müsse sich dessen Heimat befinden: die Stahlstadt Panzhihua in Sichuan. Der Ingenieur fiel aus allen Wolken. »Stimmt!«, sagte er und änderte sofort seine Reisepläne. Am nächsten Tag setzte er sich in den Bus: alte Freunde besuchen.
    Nun ist Cheng sicher ein besonders zerstreuter Ingenieur, doch deckt sich sein Verhalten mit einigen meiner Erlebnisse. Was sie nicht unmittelbar betrifft, interessierte bislang viele Chinesen nicht. Ich muss hier einschränkend hinzufügen, dass sich dies schnell ändert, dass mittlerweile eine Menge Chinesen über Deutschland oder Amerika besser Bescheid wissen als Deutsche oder Amerikaner über China und dass einen oft die unbändige Neugier und der große Wissensdurst junger Chinesen geradezu anspringen – und doch ist der Lobpreis auf das kühne Vordringen in unbeschrittene Territorien in der chinesischen Gesellschaft etwas relativ Neues. Natürlich gab es auch im alten China Abenteurernaturen, sie mussten sich allerdings meist großen Misstrauens erwehren: Im konfuzianischen Kodex machte man sich mit Tugenden wie Neugier und Entdeckerfreude – wie mit Wagemut und Tapferkeit schlechthin – eher verdächtig. Die Daoisten waren sich darin ausnahmsweise einmal mit den Konfuzianern einig: »Wer den Mut hat, verwegen zu sein, wird sterben. Wer den Mut hat, feige zu sein, wird leben«, heißt es bei Laozi.
    Es gab einmal einen berühmten Eunuchen und Admiral des Namens Zheng He (1371–1434). Geboren wurde er mit dem Familiennamen Ma (im Chinesischen ist das die erste Silbe von »Mohammed«) als Sohn einer muslimischen Familie in der Südwestprovinz Yunnan, doch nahmen die Truppen der noch jungen Ming-Dynastie (1368–1644) den Jungen gefangen. Sie kastrierten ihn – da war er dreizehn – und schickten ihn als Eunuchen in die Frauengemächer des Ming-Prinzen Zhu Di. Zheng He war seinem Herrn Gefolgsmann bei einer Palastrevolte, die dem Prinzen auf den Thron half. Zum Dank machte der neue Kaiser den treuen Zheng He zum Oberbefehlshaber seiner Flotte – der mächtigsten Armada, die die Welt je gesehen hatte und die in Größe und Pracht ein halbes Jahrtausend lang – bis zum Ersten Weltkrieg – unübertroffen bleiben sollte. Zheng He sollte der Mann werden, der die Giraffe nach China brachte und die Kunde von China in dieHeimat der Giraffen trug. Von 1405 bis 1433 stach der Admiral von Nanjing aus für insgesamt sieben gewaltige Expeditionen in See: Sie trugen ihn nach Südostasien, nach Ceylon, nach Indien, nach Afrika und nach Arabien. Schon für die erste Expedition setzten 300 Schiffe die Segel, in deren Bäuchen 27870 Mann Besatzung Platz fanden: neben Seeleuten auch Soldaten, Handwerker, Astronomen, Apotheker und Meteorologen. Orientierung bot der von den Chinesen im elften Jahrhundert erfundene Kompass. Das Hauptschiff war mehr als 140 Meter lang und setzte seine weithin sichtbaren roten Segel aus Seide auf nicht weniger als neun Masten (zum Vergleich: Als sich 1492 Kolumbus aufmachte, über die Neue Welt zu stolpern, da befehligte er gerade mal 90 Seeleute auf drei Nussschalen, die, hintereinander schippernd, keine 70 Meter lang waren). Mehrfach griffen die Truppen Zheng Hes in lokale Konflikte ein, töteten Tausende von Seeräubern, bombardierten die Stadt Lasa bei Mogadischu und erklärten etwa Ceylon und Malakka zu Vasallen des Ming-Reiches. Doch territoriale Eroberungen waren nicht das Ziel. Die Expeditionen sollten den Handel fördern, ihr eigentlicher Zweck aber war es, die Kunde von Macht und Prestige des neuen Ming-Kaisers Yongle in die Welt zu tragen.
    Unter Zheng He beherrschte China die Meere. Das Reich war den späteren Seemächten Portugal, Spanien und Holland an Ressourcen weit überlegen und technisch voraus. So, wie China in fast jeder Periode seiner vieltausendjährigen Geschichte mächtiger, volkreicher,
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