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Garp und wie er die Welt sah

Garp und wie er die Welt sah

Titel: Garp und wie er die Welt sah
Autoren: John Irving
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damit sie im selben Zug
nach Hause fahren konnten. Wie von allen Mitgliedern der [12]  Familie Fields
nicht anders erwartet, saßen sie auf der rechten Seite der Boston and Maine
Railway, wenn der Zug Boston verließ, und auf der linken, wenn sie zurückkamen.
Das entsprach den Wünschen des alten Mr. Fields, der zugab, dass die Aussicht
auf jener Seite die hässlichere war, aber fand, dass alle Fields gezwungen sein
sollten, die schmutzige Quelle ihrer finanziellen Unabhängigkeit und ihres
privilegierten Lebens zu betrachten. Zur Rechten, wenn man Boston verließ, und
zur Linken, wenn man zurückkehrte, sah man nämlich die Fields-Fabriken in
Haverhill samt gewaltiger Reklametafel mit riesigem Arbeitsschuh, der einen
festen Schritt auf den Betrachter zutat. Die Tafel prangte über dem Rangierbahnhof
und spiegelte sich in unzähligen Miniaturausgaben in den Fabrikfenstern. Unter
dem drohend vorwärtsschreitenden Fuß standen die Worte:
    FIELDS FÜR DIE FÜSSE
IN FABRIKEN UND AUF FELDERN!
    Es gab auch ein
Fields-Sortiment von Schwesternschuhen, und Mr. Fields schenkte seiner Tochter
jedes Mal, wenn sie nach Hause kam, ein Paar – Jenny musste Dutzende davon besessen haben. Auch Mrs. Fields, die den Abgang
ihrer Tochter vom Wellesley College bei jeder Gelegenheit mit einer düsteren
Zukunft gleichsetzte, machte Jenny jedes Mal, wenn diese nach Hause kam, ein
Geschenk. Und zwar schenkte sie ihrer Tochter eine Wärmflasche oder sagte es
jedenfalls – und Jenny glaubte es ihr: Sie machte
die Päckchen nie auf. Ihre Mutter sagte zum Beispiel: »Liebes, hast du noch die
Wärmflasche, die ich dir geschenkt habe?« [13]  Dann dachte Jenny kurz nach, nahm
an, dass sie sie im Zug vergessen oder weggeworfen hatte, und sagte
schließlich: » Vielleicht habe ich sie verloren,
Mutter, aber ich brauche bestimmt keine neue.« Woraufhin Mrs. Fields ein
weiteres, in Drugstorepapier eingewickeltes Päckchen aus seinem Versteck
hervorholte und es ihrer Tochter aufnötigte. Und dann sagte Mrs. Fields:» Bitte, Jenny, pass besser auf.
Und benutze sie, bitte!«
    Als Krankenschwester fand Jenny Wärmflaschen
ziemlich nutzlos; in ihren Augen waren sie nur rührende, kurios altmodische
Seelentröster. Einige Päckchen fanden jedoch den Weg bis in ihr kleines Zimmer
unweit des Boston Mercy Hospitals. Sie bewahrte sie in einem Wandschrank auf,
angefüllt mit ebenso ungeöffneten Kartons voller Schwesternschuhe.
    Sie fühlte sich ihrer Familie
nicht verbunden und fand es seltsam, dass man sie als Kind mit Fürsorge
überschüttet und dann plötzlich, zu einem bestimmten, vorher festgesetzten
Zeitpunkt, den Strom der Zuneigung abgestellt und mit den Erwartungen begonnen
hatte – als wäre es ganz normal, dass man
eine kurze Phase hindurch Liebe empfing (und auch genug davon abbekam) und dann
eine sehr viel längere und ernstzunehmendere Phase hindurch gewisse Verpflichtungen
erfüllte. Als Jenny die Fesseln gesprengt und das Wellesley College für etwas
so Gewöhnliches wie Krankenpflege aufgegeben hatte, hatte sie zugleich ihre
Familie fallenlassen – und ihre Eltern und Geschwister
machten sich daran, sie fallenzulassen, als könnten
sie nicht anders. Die Fields hätten es zum Beispiel sehr viel angemessener
gefunden, wenn Jenny Ärztin geworden oder [14]  wenn sie auf dem College geblieben
wäre, bis sie einen Arzt geheiratet hätte. Wenn sie
ihre Brüder, ihre Mutter und ihren Vater sah, war ihnen allen von Mal zu Mal
unbehaglicher zumute. Zu ihrem Bedauern mussten sie sich alle miteinander die
über die langen Jahre erworbene Vertrautheit mühsam wieder abgewöhnen.
    Familien müssen wohl so sein,
dachte Jenny Fields. Falls sie selber je Kinder hätte, würde sie sie, wenn sie
zwanzig waren, nicht weniger lieben als mit zwei. Womöglich brauchen sie einen
mit zwanzig sogar noch mehr, dachte sie. Was braucht man im Grunde schon, wenn
man zwei ist? Im Krankenhaus waren die Neugeborenen die einfachsten Patienten.
Je älter sie wurden, umso bedürftiger waren sie – und umso unerwünschter und ungeliebter.
    Jenny hatte das Gefühl, auf einem
großen Schiff herangewachsen zu sein, ohne je den Maschinenraum gesehen,
geschweige denn begriffen zu haben, wie die Maschinen darin funktionierten. Ihr
gefiel, wie im Krankenhaus alles auf die Nahrungsaufnahme, -verwertung und
-ausscheidung reduziert wurde. Als Kind hatte sie nie zugesehen, wie das
schmutzige Geschirr abgewaschen wurde, hatte eine Zeitlang sogar geglaubt,
nachdem die Dienstmädchen
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