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Garp und wie er die Welt sah

Garp und wie er die Welt sah

Titel: Garp und wie er die Welt sah
Autoren: John Irving
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Vorbild ihres Lebens habe einen nervösen Tick entwickelt.
    Neben den Brüdern war ein
Briefkasten mit einem Plakat von Uncle Sam. Ein winziger Soldat, ganz in Braun,
kletterte von Uncle Sams großen Händen herunter. Unter dem Plakat standen die
Worte: HELFT UNSEREN JUNGS ! Jennys ältester
Bruder sah Jenny an, die das Plakat ansah.
    »Und lass dich nicht mit Soldaten
ein«, fügte er hinzu, obwohl er in Kürze selbst Soldat sein würde. Einer von
den Soldaten, die nicht aus dem Krieg heimkehren sollten. Er sollte seiner Mutter das Herz brechen – etwas, wozu er sich einst so verächtlich geäußert hatte.
    Ihr einziger anderer Bruder
sollte lange nach Kriegsende bei einem Segelunfall ums Leben kommen. Er würde
etliche Seemeilen vor dem Fields’schen Anwesen in Dog’s Head Harbor ertrinken.
Von seiner trauernden Ehefrau würde Jennys Mutter sagen: »Sie ist noch jung und
attraktiv, und die Kinder sind nicht unausstehlich. Bis jetzt jedenfalls. Nach
angemessener Zeit kann sie sich nach einem Neuen umsehen.« Die Witwe des
Bruders wandte sich schließlich, fast ein Jahr nach dem nassen Tod ihres
Mannes, an Jenny. Sie fragte Jenny, ob sie fände, dass nun eine »angemessene
Zeit« verstrichen sei, und ob sie jetzt anfangen könne, sich »nach einem Neuen
umzusehen«. Sie hatte [24]  Angst, Jennys Mutter zu verletzen, und wollte wissen,
ob Jenny es für richtig hielt, die Trauer abzulegen.
    »Wozu trauerst du, wenn dir nicht
nach Trauern ist ?«, fragte Jenny sie. In ihrer
Autobiographie schrieb Jenny: »Diese arme Frau musste gesagt bekommen, was sie fühlen sollte.«
    »Das sei die dümmste Frau
gewesen, sagte meine Mutter, der sie je begegnet sei«, schrieb Garp. »Und sie
hatte das Wellesley College besucht!«
    Aber als Jenny Fields ihren
Brüdern vor ihrer kleinen Pension beim Boston Mercy gute Nacht sagte, war sie
zu verwirrt, um wütend zu sein. Außerdem hatte sie Schmerzen – das Ohr, auf das der Soldat sie geschlagen hatte,
tat ihr weh, und unter den Schulterblättern hatte sie einen Muskelkrampf, so
dass sie kaum schlafen konnte. Sie musste sich irgendwas gezerrt haben, als die
Kartenabreißer sie im Foyer gepackt und ihr die Arme auf den Rücken gedreht
hatten. Ihr fiel ein, dass eine Wärmflasche angeblich gut gegen Muskelschmerzen
war, und sie stand auf, ging zum Wandschrank und öffnete eines der Päckchen,
die ihre Mutter ihr geschenkt hatte.
    Es war keine Wärmflasche – das war nur die beschönigende Bezeichnung für etwas
gewesen, was ihre Mutter nicht über die Lippen brachte. In dem Päckchen befand
sich eine Frauendusche. Jennys Mutter wusste, wozu sie dienten, und Jenny auch.
Sie hatte im Krankenhaus vielen Patientinnen geholfen, sie zu benutzen, obwohl
sie dort eher nicht zur Schwangerschaftsverhütung nach dem Liebemachen benutzt
wurden; sie wurden zur allgemeinen Frauenhygiene und bei Geschlechtskrankheiten
benutzt. [25]  Für Jenny Fields war eine Frauendusche eine freundlichere,
bequemere Version des Valentine-Irrigators.
    Jenny öffnete alle Päckchen von
ihrer Mutter. In jedem war eine Frauendusche. »Bitte, benutze sie, Liebes!«, hatte ihre Mutter sie angefleht. Jenny wusste,
dass ihre Mutter es nur gut meinte und annahm, dass Jenny ein ebenso aktives
wie verantwortungsloses Sexualleben führte. Erst recht »seit Wellesley«, wie
ihre Mutter es ausgedrückt hätte. Seit Wellesley, glaubte Jennys Mutter, war
Jenny »außer Rand und Band« (wie sie sich ebenfalls ausgedrückt hätte).
    Jenny Fields kroch wieder ins
Bett und legte sich die Frauendusche, in die sie heißes Wasser gefüllt hatte,
zwischen die Schulterblätter; sie hoffte, die Klemmen, die dafür sorgten, dass
das Wasser nicht den Schlauch hinunterlief, seien dicht, hielt aber
sicherheitshalber den Schlauch wie einen Rosenkranz aus Gummi mit der Hand
umklammert und tauchte das Ende mit den winzigen Löchern in ihr leeres
Wasserglas. Die ganze Nacht lag Jenny da und lauschte dem Tröpfeln der
Frauendusche.
    In dieser Welt mit ihrer
schmutzigen Phantasie, dachte sie, ist man entweder Ehefrau oder Hure – oder auf bestem Wege, das eine oder das andere zu
werden. Wenn du in keine der beiden Kategorien passt, versuchen alle, dir das
Gefühl zu vermitteln, dass irgendetwas mit dir nicht stimmt. Aber, dachte sie,
mit mir stimmt alles.
    Das war natürlich der Anfang des
Buches, das Jenny Fields viele Jahre später berühmt machen sollte. Ihre
Autobiographie, hieß es, überbrücke bei aller Ungeschliffenheit die übliche
Kluft
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