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Garp und wie er die Welt sah

Garp und wie er die Welt sah

Titel: Garp und wie er die Welt sah
Autoren: John Irving
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Frauen, die sich auf ihr Kind freuten, und
wünschte sich dann selber eines. Eines Tages, dachte Jenny Fields, will ich ein
Kind – nur eins. Das Problem war nur, dass
sie möglichst wenig mit einem Peter zu tun haben wollte, und mit einem Mann
gleich gar nichts.
    Die meisten Peter-Behandlungen,
die Jenny zu sehen bekam, wurden an Soldaten vorgenommen. Die Entdeckung des
Penicillins sollte der US -Army erst nach 1943 zugutekommen,
und viele Soldaten bekamen noch bis 1945 kein Penicillin. Im Boston Mercy
wurden Peter damals, um 1942, gewöhnlich mit Sulfonamiden und Arsen behandelt.
Bei Tripper gab es Sulfathiazol – mit sehr viel
Wasser. Und gegen Syphilis verabreichte man in der Zeit vor dem Penicillin ein
Mittel namens Neo-Salvarsan. Jenny Fields fand, dies war der Inbegriff dessen,
wohin Sex führen konnte – [18]  dass man dem menschlichen Körper Arsen zuführte , um ihn zu
säubern.
    Auch
die andere, lokale Peter-Behandlung erforderte viel Flüssigkeit. Jenny
assistierte oft bei dieser Desinfektionsprozedur, weil der Patient dabei viel
Zuspruch brauchte; manchmal musste er sogar festgehalten werden. Es war ein
sehr einfaches Verfahren, bei dem man bis zu hundert Milliliter Flüssigkeit in
den Penis und durch die überraschte Harnröhre jagte, bevor alles wieder
rauskam. Aber die Prozedur war für alle Beteiligten ein bisschen ungemütlich.
Der Mann, der einen Apparat für diese Behandlungsmethode erfand, hieß
Valentine, und sein Apparat wurde Valentine-Irrigator genannt. Noch lange
nachdem Dr. Valentines Irrigator verbessert, sogar noch nachdem er durch einen
anderen Spülungsapparat ersetzt worden war, bezeichneten die Schwestern im
Boston Mercy die Prozedur als Valentine-Therapie – eine angemessene Strafe für jeden Liebhaber, wie Jenny Fields fand.
    »Meine
Mutter«, schrieb Garp, »hatte wenig Sinn für Romantik.«
    Als der Soldat im Kino sich
das erste Mal umsetzte – bei seinem ersten Annäherungsversuch  –, dachte Jenny Fields: Für den wäre die
Valentine-Therapie genau das Richtige. Aber sie hatte keinen Irrigator dabei – er war zu groß für ihre Handtasche. Außerdem wäre
dafür die bereitwillige Mitwirkung des Patienten nötig gewesen. Aber sie hatte
etwas anderes dabei: ein Skalpell, das sie immer mit sich herumtrug. Sie hatte
es nicht aus dem OP gestohlen – es war ein weggeworfenes Skalpell mit einer tiefen Scharte an der [19]  Spitze
(wahrscheinlich hatte ein Arzt es auf den Boden oder in ein Waschbecken fallen
lassen). Für Feinarbeit taugte es nicht mehr, aber für Feinarbeit brauchte
Jenny es auch nicht.
    Zuerst hatte es das Seidenfutter
ihrer Handtasche aufgeschlitzt. Dann hatte sie eine Hälfte einer alten
Thermometerhülle gefunden, die genau über die Klinge passte und sie wie eine
Füllfederkappe umhüllte. Diese Hülle zog sie ab, als der Soldat auf den Sitz
neben ihr rückte und den Arm auf die Lehne legte, die sie (absurderweise)
teilen sollten. Seine lange Hand, die vom Ende der Armlehne herunterbaumelte,
zuckte wie die Flanke eines Pferdes, das Fliegen wegzittert. Jenny behielt die
Hand am Skalpell in ihrer Tasche; mit der anderen Hand hielt sie die Tasche auf
ihrem weißen Schoß fest. Sie stellte sich vor, dass ihr Schwesternkittel wie
ein heiliger Schild leuchtete und dass das Geschmeiß neben ihr aus irgendeinem
perversen Grund von diesem Leuchten angelockt wurde.
    »Meine Mutter«, schrieb Garp,
»war ihr Leben lang auf der Hut vor Männern, die Frauen die Handtasche oder die
Unschuld rauben wollten.«
    Der Soldat im Kino wollte nicht
an ihre Tasche. Er fasste ihr Knie an. Jenny wies ihn ziemlich unverblümt
zurecht. »Nehmen Sie Ihre stinkende Hand da weg«, sagte sie. Mehrere Leute
drehten sich um.
    »Ach, sei doch nicht so«, raunte
der Soldat, und seine Hand fuhr schnell unter ihren Schwesternkittel; er musste
feststellen, dass sie die Oberschenkel zusammengepresst hatte – und dann, dass sein ganzer Arm, von der Schulter bis
zum Handgelenk, plötzlich aufgeschlitzt war wie eine [20]  weiche Melone. Jenny
hatte sein Rangabzeichen und sein Hemd sauber durchtrennt, Haut und Muskeln
fachmännisch seziert und die Ellbogengelenksknochen freigelegt. (»Wenn ich ihn
hätte töten wollen«, erklärte sie später gegenüber der Polizei, »hätte ich ihm
die Pulsadern aufgeschnitten. Ich bin Krankenschwester. Ich weiß, wie Leute
verbluten.«)
    Der Soldat schrie, sprang auf,
fiel auf seinen Stuhl zurück, schlug dabei mit seinem heilen Arm nach Jennys
Kopf und traf
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