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Garp und wie er die Welt sah

Garp und wie er die Welt sah

Titel: Garp und wie er die Welt sah
Autoren: John Irving
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berühmten Großmutter, weil Jenny Garp diese nur aus zweiter
Hand kannte.
    Die junge Jenny war eine
glänzende Studentin; wie ihre Mutter absorbierte sie alles – und konnte alles,
was sie lernte, wiedergeben. Wie Jenny Fields bezog sie ihre Menschenkenntnis
daher, dass sie viel in Krankenhäusern war – wobei sie sich an die Erkenntnis
herantastete, welche gute Tat möglich war, und erkannte, welche nicht.
    [838]  Als Assistenzärztin heiratete
sie einen jungen Arzt. Jenny Garp gab ihren Namen allerdings nicht auf; sie
blieb eine Garp, und in einem beängstigenden Kleinkrieg mit ihrem Mann sorgte
sie dafür, dass ihre drei Kinder ebenfalls Garps sein würden. Sie sollte sich
schließlich scheiden lassen – und wieder heiraten, aber nicht Hals über Kopf.
Die zweite Ehe entsprach ihren Vorstellungen. Der Mann war Künstler, viel älter
als sie, und wenn noch jemand von der Familie am Leben gewesen wäre, um an ihr
herumzukritisieren, hätte er zweifellos warnend gesagt, dass sie offenbar etwas
von Duncan in dem Mann sehe.
    »Na und?«, hätte sie dann gesagt.
Wie ihre Mutter hatte sie ihren eigenen Kopf; wie Jenny Fields behielt sie
ihren eigenen Namen.
    Und ihr Vater? In welcher
Beziehung ähnelte Jenny Garp ihm – den sie nie richtig gekannt hatte? Sie war
schließlich noch ein Baby gewesen, als er starb.
    Oh, sie war exzentrisch. Sie hatte die Angewohnheit, in jede Buchhandlung zu gehen und nach
den Büchern ihres Vaters zu fragen. Wenn sie nicht am Lager waren, bestellte
sie sie. Sie hatte das Gefühl eines Schriftstellers für Unsterblichkeit:
Solange man im Druck ist und im Regal steht, lebt man. Jenny Garp hinterließ in
ganz Amerika falsche Namen und Adressen; die Bücher, die sie bestellte, wurden
dann an irgendjemanden verkauft, argumentierte sie.
T.S. Garp durfte nicht vergriffen sein – wenigstens nicht zu Lebzeiten seiner
Tochter.
    Sie setzte sich auch eifrig für
die berühmte Feministin ein, ihre Großmutter Jenny Fields; aber wie ihr Vater
kümmerte sie sich eher wenig um das schriftstellerische Werk [839]  von Jenny Fields. Sie bedrängte die Buchhandlungen nicht, Eine sexuell Verdächtige im Regal zu haben.
    Vor allem ähnelte sie ihrem Vater
in der Art und Weise ihrer Berufsausübung. Jenny Garp wandte ihren
medizinischen Verstand der Forschung zu. Sie wollte keine Privatpraxis
betreiben. Sie ging nur dann ins Krankenhaus, wenn sie krank war. Stattdessen arbeitete Jenny eine Reihe von Jahren eng mit dem
Connecticut Tumor Registry zusammen; zuletzt leitete sie eine Abteilung des
National Cancer Institute. Wie ein guter Schriftsteller, der sich liebevoll um
jedes Detail kümmern muss, verbrachte Jenny Garp Stunden damit, die Gewohnheiten
einer einzigen menschlichen Zelle zu registrieren. Wie ein guter Schriftsteller
war sie ehrgeizig; sie hoffte, sie würde den Krebs von Grund auf kennenlernen.
In einem gewissen Sinne tat sie das auch. Sie sollte daran sterben.
    Wie andere Ärzte schwor auch
Jenny den heiligen Eid des Hippokrates, des sogenannten Vaters der Medizin,
womit sie versprach, sich ungefähr so dem Leben zu verschreiben, wie Garp es
einst dem jungen Whitcomb geschildert hatte – auch wenn es dabei um den Ehrgeiz
des Schriftstellers gegangen war (»…wie wenn man versucht, jedem ewiges Leben
zu geben. Sogar denen, die am Ende sterben müssen. Die vor allem muss man am
Leben erhalten«). Daher war die Krebsforschung nicht deprimierend für Jenny
Garp, die sich gern so beschrieb, wie ihr Vater einen Romancier beschrieben
hatte.
    »Ein Arzt, der nur unheilbare
Fälle behandelt.«
    In der Welt, so wie ihr Vater sie
sah – das wusste Jenny Garp –, brauchen wir Energie. Ihre berühmte Großmutter, [840]  Jenny
Fields, hatte die Menschen einst in »Äußerliche«, »lebenswichtige Organe«,
»Abwesende« und »Halbtote« eingeteilt. Aber in der Welt, so wie Garp sie sah,
sind wir alle unheilbare Fälle.

Foto: © Jane Sobel Klonsky
     
    JOHN IRVING , 1942 in Exeter, New Hampshire, geboren, wusste als
19-Jähriger genau, was er wollte: Ringen und Romane schreiben. Bis zum
Durchbruch von Garp trainierte er an amerikanischen Universitäten
Ringermannschaften und zukünftige Schriftsteller.  Im Jahre 2000 erhielt John Irving den Oscar
für die beste Drehbuchadaption für den Film Gottes Werk und Teufels Beitrag. 2001 wurde er als Mitglied in die ›American Academy of Arts and Letters‹ aufgenommen.
Er lebt heute im südlichen Vermont.
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