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Garp und wie er die Welt sah

Garp und wie er die Welt sah

Titel: Garp und wie er die Welt sah
Autoren: John Irving
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obwohl sie Jenny noch schwanger sehen und
imstande sein sollte, sich vorzustellen, dass sie
Großmutter sei.
    »Sich etwas vorzustellen ist
besser, als sich an etwas zu erinnern«, schrieb Garp.
    [835]  Und Helen musste gewiss froh
darüber sein, dass Duncans Leben in eine feste Bahn kam, wie er Roberta
versprochen hatte.
    Nach Helens Tod arbeitete Duncan
sehr intensiv mit dem demütigen Mr. Whitcomb; sie veröffentlichten eine
respektable Edition von Meines Vaters Illusionen. Wie
die Vater-und-Sohn-Ausgabe der Pension Grillparzer illustrierte Duncan auch Meines Vaters Illusionen, oder jedenfalls den Torso – das Porträt eines Vaters, der ehrgeizig und
aussichtslos auf eine Welt hinarbeitet, in der seine Kinder sicher und
glücklich sein werden. Die Illustrationen, die Duncan beitrug, waren in der
Hauptsache Porträts von Garp.
    Irgendwann nach Erscheinen des
Buches wurde Duncan von einem alten, sehr alten Mann besucht, an dessen Namen
Duncan sich nicht erinnern konnte. Der Mann behauptete, an einer »kritischen
Biographie« Garps zu arbeiten, aber Duncan fand seine Fragen irritierend. Der
Mann fragte immer wieder nach den Ereignissen, die zu dem schrecklichen
Unglücksfall führten, bei dem Walt ums Leben kam. Duncan wollte ihm nichts
sagen (Duncan wusste nichts), und der Mann zog –
biographisch gesehen – mit leeren Händen wieder ab. Der Mann war natürlich
Michael Milton. Duncan hatte den Eindruck gehabt, dem Mann fehle irgendetwas,
obwohl Duncan nicht hatte wissen können, dass Michael Milton der Penis fehlte.
    Das Buch, das er angeblich
schrieb, kam nie ans Licht, und niemand weiß, was aus ihm – dem Autor – wurde.
    Wenn sich die Welt der Rezensenten,
nach Erscheinen von Meines Vaters Illusionen, darauf
beschränkte, Garp [836]  bloß als einen »exzentrischen Schriftsteller«, einen
»guten, aber keinen großen Autor« zu bezeichnen, so machte es Duncan nichts
aus. Um mit Duncan zu sprechen, Garp war »originell« und hatte »das, worauf es
ankommt«. Garp war immerhin ein Mensch gewesen, der einem blinde Treue
abnötigen konnte.
    » Einäugige Treue«, nannte es Duncan.
    Er hatte seit langem eine
Geheimsprache mit seiner Schwester Jenny und mit Ellen James; die drei hielten
zusammen wie Pech und Schwefel.
    »Auf Captain Energy!«, pflegten
sie zu sagen, wenn sie miteinander tranken.
    »Transsex ist der beste Sex!«,
sangen sie manchmal, wenn sie betrunken waren, was Duncans Frau verlegen machte – obwohl sie zweifellos der gleichen Meinung war.
    »Wie steht’s mit der Energie?«,
pflegten sie einander zu schreiben und am Telefon zu fragen und zu
telegraphieren, wenn sie wissen wollten, was los war. Und wenn sie viel Energie
entfalteten, charakterisierten sie einander als »voller Garp«.
    Duncan sollte zwar ein langes,
sehr langes Leben beschieden sein, aber er sollte unnötigerweise und
absurderweise wegen seines ausgeprägten Sinns für
Humor sterben. Er sollte sterben, während er über einen seiner eigenen Witze
lachte, was zweifellos zur Familie Garp passte. Es war bei einer Art
Initiationsparty für einen neuen Transsexuellen, einer Freundin seiner Frau.
Duncan verschluckte sich an einer Olive und erstickte innerhalb weniger
Sekunden schallenden Gelächters. Das ist eine schreckliche und törichte
Todesart, aber alle, die ihn kannten, sagten, [837]  Duncan hätte nichts dagegen
gehabt – weder gegen diese Form des Sterbens noch gegen das Leben, das hinter
ihm lag. Duncan Garp sagte immer, dass sein Vater unter Walts Tod mehr gelitten
habe, als irgendjemand in der Familie unter irgendetwas anderem gelitten habe.
Und Tod bleibt Tod, welche Todesart man auch wählt. »Zwischen Männern und
Frauen«, so hatte Jenny Fields einmal gesagt, »ist allein der Tod gleich
verteilt.«
    Jenny Garp, die auf dem Gebiet
des Todes viel mehr Anschauungsunterricht hatte als ihre berühmte Großmutter,
hätte ihr nicht zugestimmt. Die junge Jenny wusste, dass zwischen Männern und
Frauen nicht einmal der Tod gleich verteilt wird. Die Männer kriegen auch davon
mehr ab.
    Jenny Garp sollte sie alle
überleben. Wenn sie bei der Party gewesen wäre, bei der ihr Bruder erstickte,
hätte sie ihn wahrscheinlich retten können. Zumindest hätte sie genau gewusst,
was zu tun sei. Sie war Ärztin. Sie sagte immer, durch die Zeit in dem Krankenhaus
in Vermont, als sie sich um Duncan gekümmert habe, sei in ihr der Entschluss
gereift, sich der Medizin zuzuwenden – nicht die krankenpflegerische
Vergangenheit ihrer
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