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Garp und wie er die Welt sah

Garp und wie er die Welt sah

Titel: Garp und wie er die Welt sah
Autoren: John Irving
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zwischen literarischem Anspruch und Popularität, obwohl Garp behauptete,
das Werk seiner [26]  Mutter habe »den gleichen literarischen Wert wie der
Versandkatalog von Sears Roebuck«.
    Doch was war das Ordinäre an
Jenny Fields? Nicht ihre juristisch geschulten Brüder, nicht der Soldat im
Kino, der ihren Schwesternkittel besudelte. Nicht die Frauenduschen ihrer
Mutter, obwohl sie am Ende schuld daran waren, dass Jenny vor die Tür gesetzt
wurde. Ihre Wirtin (eine mürrische Person, die aus obskuren Gründen alle Frauen
in Verdacht hatte, jederzeit vor Wollust explodieren zu wollen) entdeckte in
Jennys winzigem Zimmer mit Bad insgesamt neun Frauenduschen. Kontaktschuld: Für
die beunruhigte Wirtin war dies ein Indiz für eine – ihre eigene Angst noch
übertreffende – Angst vor Ansteckung. Oder, schlimmer noch, diese Vielzahl von
Frauenduschen wies auf ein tatsächliches, erschreckendes Duschbedürfnis hin, dessen denkbare Ursachen die Wirtin bis in ihre
schlimmsten Träume verfolgten.
    Man mochte sich gar nicht
ausmalen, was sie sich zu den zwölf Paar Schwesternschuhen dachte. Jenny fand
die Angelegenheit so absurd – und hatte selbst so
zwiespältige Gefühle, was die Vorsichtsmaßnahmen ihrer Eltern betraf  – , dass sie kaum protestierte. Sie zog um.
    Aber all das machte sie noch
lange nicht ordinär. Da ihre Brüder, ihre Eltern und ihre Wirtin ihr – ohne Rücksicht auf das Beispiel, das sie gab – ein liederliches Leben unterstellten, kam Jenny zu
dem Schluss, dass jegliche Unschuldsbeweise zwecklos waren und sie nur in die
Defensive drängten. Sie nahm sich eine kleine Wohnung, womit sie sich prompt
die nächste Ladung originalverpackter Frauenduschen seitens ihrer Mutter und
einen Haufen [27]  Schwesternschuhe von ihrem Vater einhandelte. Ihr fiel wie
Schuppen von den Augen, dass sie dachten: Wenn sie schon eine Hure sein muss,
dann wenigstens eine saubere mit anständigen Schuhen.
    Nicht zuletzt der Krieg hielt
Jenny von langen Grübeleien darüber ab, wie gründlich ihre Familie sie
missverstand – und noch dazu von Bitterkeit und
Selbstmitleid. Jenny war keine Grüblerin. Sie war eine gute Krankenschwester,
und sie bekam immer mehr zu tun. Viele Schwestern meldeten sich freiwillig zum
Dienst in der Army, aber Jenny hatte kein Bedürfnis, die Uniform oder den
Wohnort zu wechseln; sie war eine Einzelgängerin und legte keinen Wert darauf, lauter
neue Leute kennenzulernen. Im Übrigen fand sie die Rangordnung im Boston Mercy irritierend genug – in einem Feldlazarett der Army konnte das nur noch schlimmer sein.
    Vor allem die Neugeborenen hätten
ihr gefehlt. Deshalb blieb sie, als so viele andere gingen. Als
Krankenschwester, das spürte sie, war sie am besten auf der Entbindungsstation – und plötzlich gab es so viele Babys, deren Väter
weit weg, gefallen oder vermisst waren. Jenny hatte vor allem den Wunsch,
diesen Müttern Mut zu machen. Im Grunde beneidete sie sie sogar. In ihren Augen
war es die ideale Situation: eine Mutter, allein mit einem Neugeborenen, der
dazugehörige Mann am Himmel über Frankreich abgeschossen. Eine junge Frau mit
ihrem Kind, und das ganze Leben noch vor sich – nur sie beide. Ein Kind ganz ohne Verpflichtungen, dachte Jenny Fields. Fast
eine jungfräuliche Geburt. Zumindest würde keine weitere Peter-Behandlung erforderlich sein.
    [28]  Die Frauen waren mit ihrem Los
natürlich nicht immer so zufrieden, wie Jenny es an ihrer Stelle gewesen wäre.
Viele von ihnen waren traurig, andere fühlten sich im Stich gelassen; einige
lehnten ihre Kinder ab; andere wollten einen Ehemann und einen Vater für ihre
Kinder. Aber Jenny Fields war ihre Stütze – sie plädierte für das Alleinleben, sie machte ihnen klar, was für ein Glück sie
hatten.
    »Glauben Sie nicht, dass Sie eine
gute Frau sind?«, fragte sie sie. Die meisten fanden, dass sie es waren.
    »Und haben Sie nicht ein
wunderbares Baby?« Die meisten fanden ihr Baby wunderbar.
    »Und der Vater? Wie war er?« Ein
Faulenzer, dachten viele. Ein Schwein, ein Flegel, ein Lügner – ein abgewrackter Nichtsnutz, ein Herumtreiber! Aber
er ist tot !, schluchzten einige.
    »Dann sind Sie jetzt doch besser
dran, oder?«, fragte Jenny.
    Einige schlossen sich ihrer
Ansicht an, doch Jennys Ruf im Krankenhaus litt unter dieser Kampagne.
Allgemein war das Krankenhaus nicht so ermutigend gegenüber ledigen Müttern.
    »Die Jungfrau Maria-Jenny«,
sagten die anderen Schwestern. »Die will kein Baby auf die leichte Tour.
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