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Galgentochter

Galgentochter

Titel: Galgentochter
Autoren: Ines Thorn
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die Finger. Viel wird’s ohnehin nicht sein. Nimm die Leiche einstweilen mit.»
    «Soll ich sie in ein Fass stecken und in den Main werfen, wie man es gemeinhin mit Selbstmördern hält, oder hier am Galgen verscharren?», fragte er weiter, stieß mit derStiefelspitze gegen die Tote und musterte sie, als wollte er schon die Größe des Fasses abschätzen.
    «Der Stadtmedicus muss ein Protokoll schreiben. Zeugen sind zu befragen, dann nehme ich schriftlich Stellung. Am Donnerstag werden dem Rat die Criminalia der Stadt vorgelegt. Stimmt der Rat dem von mir vorgeschlagenen Urteil zu, kannst du mit der Leiche verfahren, wie es einem Selbstmörder gebührt. Jetzt aber nimmst du das tote Weib mit und wartest ab. Und am Nachmittag kommst du ins Malefizamt.»
    Mit diesen Worten bestieg der Richter sein Pferd, schnalzte mit der Zunge und ritt, begleitet vom Stadtmedicus, zurück nach Frankfurt. Dort begab er sich an seinen Arbeitsplatz im Malefizamt und ließ einen Schreiber rufen.
    «Eine Hure ist tot aufgefunden worden. Schreib eine Ladung an die Hübschlerinnen. Sie sollen sich sogleich hier einfinden, damit sie befragt werden können.»
    Der Schreiber tat wie geheißen, schickte einen Boten, und kaum, dass der Richter in der Ratsschenke einen Krug Wein geleert hatte, waren die Zeuginnen da. Acht grellgeschminkte Frauen mit dem gelben Schleier der Huren standen im Gang, füllten das Haus mit ihrem Geschnatter und verbreiteten den Geruch billiger Duftwässer, sodass der Richter befürchtete, Kopfschmerzen zu bekommen.
    Nacheinander ließ er die Frauen eintreten, doch keine von ihnen wusste etwas über eine Frau, auf welche die Beschreibung des Richters passte. Stattdessen kitzelte ihn eine am Kinn, eine andere leckte sich über die Lippen und schob die Brüste vor, eine Dritte nannte ihn sogar «mein Kleiner», und der Richter hatte alle Mühe, dafür zu sorgen, dass der Schreiber nur die bloßen Aussagen der Frauen ins Protokoll nahm. Die Letzte aber brummte: «Keine Ahnung,warum Ihr uns von der Arbeit holt. Euer Weib war schon da und hat uns ausgefragt.»
    Dem Richter blieb der Mund offen stehen. Er scheuchte die Frauen hinaus und wedelte dabei mit den Händen, als wolle er eine Schar Gänse verjagen.
    Als die Letzte gegangen war, war er kein bisschen klüger, dafür brummte ihm der Schädel.
    Blettner strich sich über seinen Bauch, der sich erst wenig über den Gürtel wölbte, gähnte und streckte sich ausgiebig und tat kund, dass er nun zum Mittagessen und danach in die Ratsschenke gehe. «Ein harter Tag. Ich muss den Fall in aller Ruhe bedenken. Schreiber, sorge dafür, dass der Scharfrichter und der Stadtmedicus die Protokolle zu mir in die Fahrgasse bringen.»
     
    Das Essen stand schon auf dem Tisch, als der Richter nach Hause kam. In einer Schüssel dampfte das Fleisch, das frische Brot duftete, und die Bohnen waren weder zu hart noch verkocht.
    Er ließ sich reichlich auftun, aß mit Genuss. Erst als die Magd das Geschirr in den Spülstein stellte, sagte er mit strenger Stimme: «Hella, du warst also bei den Huren.»
    Seine Frau blickte ihn gerade an. «Ja, das war ich. Es ist meine Christenpflicht, den Beladenen in schwerer Zeit zur Seite zu stehen.»
    «Ah! Wie gut du doch bist. Du kannst dir deine Nächstenliebe wieder für mich aufheben, der Fall ist gelöst. Ich werde heute die Akten schließen und mich, was das Urteil betrifft, für Selbstmord aussprechen.»
    Hella fuhr auf.
    «Selbstmord? Niemals!»
    «So? Und warum nicht?»
    «Weil sich eine Selbstmörderin nicht
unter
den Galgen legt und einen Hund an den Balken hängt, deshalb!»
    «Ach, Hella, das habe ich alles schon bedacht. Mein Gott, wer kann schon in das Innere eines anderen Menschen blicken? Vielleicht hat sich die Hure vor sich selbst als ehrlos bekannt, damit Gott ein Einsehen hat und ihr ein paar Jahrzehnte Fegefeuer erspart. Seit es die lutherische Lehre gibt, weiß doch niemand mehr so genau, wie Gott uns gern hätte.»
    Er stand auf, gähnte: «Ich werde mich ein Weilchen hinlegen, weil ich nachdenken muss. Sieh zu, dass niemand meine Gedanken stört.»
    «Trotzdem: Es war kein Selbstmord», beharrte Hella, doch der Richter war schon auf dem Weg ins Schlafzimmer.
    Wenig später drang sein Schnarchen bis hinunter ins Untergeschoss. Als der Schreiber die versiegelten Protokolle des Scharfrichters und des Stadtmedicus brachte, wusste Hella vor Verlegenheit nicht, wie sie die Schnarchtöne aus der oberen Kammer erklären sollte. Der
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