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Galgentochter

Galgentochter

Titel: Galgentochter
Autoren: Ines Thorn
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goss Rotwein in einen Topf, der über dem Herdfeuer hing. Sie gab ein wenig Zimt, Muskat und Honig hinein und rührte kräftig um. Dann fingerte sie ein Fläschchen aus ihrer Kitteltasche, aus dem sie einige Tropfen in den Würzwein fließen ließ. Sie füllte den heißen Wein in eine Kanne, stellte diese auf ein Tablett, einen Becher aus Ton dazu und verließ das Haus.
    «Hier, für dich», sagte sie dem Stadtknecht. «Du bist schon ganz durchgefroren.»
    Der Stadtknecht trat von einem Bein auf das andere, drehte den Kopf, als könne er so dem Duft des köstlichen Weines entgehen. «Ich darf nichts von dir annehmen», sagte er. «Das ist verboten.»
    «Verboten?» Das Mädchen lachte. «Erkälten wirst du dich, krank werden und kein Geld nach Hause bringen können. Wäre ich dein Weib, so würde ich dir verbieten, den Trank zurückzuweisen.»
    Der Stadtknecht spähte die Gasse hinab. Alles lag still. Aus den meisten Häusern war ein Lichtschein zu sehen. Irgendwo am Fluss bellte ein Hund.
    «Du hast recht», sagte er mit strenger Stimme. «Es ist der Sache nicht gedient, wenn ich krank werde.» Dann nahm er den Becher und stürzte ihn in einem kräftigen Zug hinunter. Das Mädchen blieb stehen und wartete. «Gut schmeckt er, dein Wein.»
    «Willst du noch einen Becher?»
    Schon hatte sie Würzwein eingefüllt und dem Stadtknecht gereicht. Der trank wieder in einem Zug, stellte den Becher ab, fuhr sich mit dem Handrücken über den Mund. «Du verstehst dich wohl darauf, guten Würzwein zu machen? Ich wünschte, du würdest meiner Alten das Rezept geben. Das, was sie mir zu Hause vorsetzt, schmeckt wie Essig.»
    Das Mädchen lachte ein wenig, ließ aber den Mann nicht aus den Augen. Der wischte sich über die Stirn, zwinkerte, schnappte nach Luft. «Mir wird so wohl von deinem Wein», sagte er mit belegter Zunge und leise lallend. «So wohl wird mir. Und so warm.» Er riss am Kragen seines Wamses, lächelte noch einmal, dann verdrehte er die Augen und fiel wie ein nasser Sack zu Boden.
    Das Mädchen fasste ihn unter den Achseln und zog ihn in das Haus. Dann nahm sie sein Pferd, führte es hinter das Haus und band es dort an einen Baum. Zum Schluss verriegelte sie das Haus gründlich, nahm einen Sack, der unbeachtet neben der Tür gestanden hatte, und schlich sich, dem Mondlicht ausweichend, eng an den Katen entlang bis hinunter zum Fluss. Dort drehte sie mit aller Kraft einen Kahn um und schob ihn ins Wasser. Sie richtete sich auf, bevor sie das Boot bestieg, sah hoch zu einer Kate in derNähe des Flusses. «Dank dir, Fischer», flüsterte sie. «Noch ein letztes Mal nehme ich mir deinen Kahn. Du wirst ihn wiederbekommen. Verzeih, dass ich dir Mühe mache.»
    Sie legte den Sack in den Kahn, stieg hinzu, nahm die Ruder und bewegte den Kahn so leise es ging in die Flussmitte. Dort ließ sie sich von der Strömung ein ganzes Stück treiben. Heiter war ihr zumute. Hätte sie das Glück gekannt, so wäre sie vielleicht glücklich gewesen. «Nicht mehr lange», flüsterte sie. «Bald schon, ganz bald bin ich bei dir. Und dort kannst du mir nicht entkommen, Sebastian.»
    Als sie auf der Höhe des Galgenberges angelangt war, ruderte sie das Boot zum Ufer, vertäute es, nahm den Sack und sprang hinaus. Dann lief sie geduckt den schmalen Pfad hinüber zum Galgenberg. Sie stieg über das kleine, kniehohe Mäuerchen und lief, bis sie unter dem Galgen stand. Dort öffnete sie den Sack, holte einen toten Hund daraus hervor, den sie am Nachmittag dem Abdecker gestohlen hatte. Sie kletterte am Galgen hinauf, hängte den Hund dorthin, wo sonst die Mörder hingen. Dann, als sie wieder unten war, setzte sie sich unter den Galgen, so, dass sein Schatten wie ein Kreuz auf sie fiel. Dann nahm sie das Fläschchen aus ihrem Kittel, holte den Wachsstopfen heraus und goss sich den gesamten Inhalt in den Mund. Einmal noch sah sie hoch zum Mond, dessen runde Scheibe ihr wie das Rad der Fortuna erschien. Sie begann zu fliegen, konnte mit den Händen nach dem Rad greifen und es endlich, endlich drehen.

Epilog
    Als der Richter am nächsten Morgen das Haus der Hebamme betrat, wusste er schon, dass das Mädchen tot unter dem Galgen lag.
    Nein, er war nicht froh, dass der Fall nun gelöst war. Und auch Hella hatte um das Mädchen geweint, das sie nicht kannte, von dem sie aber glaubte, dass sie nicht nur eine Mörderin gewesen war.
    Auf dem Tisch in der Küche lag ein Blatt Papier. Heinz nahm es in die Hand und las:
    «Ich wusste schon immer, dass
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