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Gabriel oder das Versprechen

Gabriel oder das Versprechen

Titel: Gabriel oder das Versprechen
Autoren: Wolfgang Voosen
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sich ihren Lippen. Er hoffte auf ein Signal von
ihr. Denn er verspürte - unerfahren, wie er in solchen Situationen
war - immer noch Angst, er könnte genau das Falsche tun.
    Endlich. Jetzt wird er mich küssen,
dachte sie die Augen schließend, seinen Kuss erwartend.
    Doch als sie die Augen schloss,
verließ ihn plötzlich der Mut. Er zögerte, drehte ihren Kopf zur
Seite und gab ihr einen sanften Kuss auf die Wange. Kaum schienen
seine Lippen ihre Haut zu berühren.
    Sie schlug die Augen auf, kuschelte
sich an seine Schulter, spürte seine Wärme, drückte ihm einen Kuss
auf seinen Hals und sagte: »Schlaf gut! Und träume einen schönen
Traum!« Sie war nicht enttäuscht. Überrascht ja, aber nicht
enttäuscht. Es blieb noch viel Zeit, die Träume zu
leben.
    »Gute Nacht! Ja, ich werde träumen
…«

 
    6
    Bistro ›Vera & Friends‹,
Samstag, 9. Mai, 9.05 Uhr
    Vera schloss die mit einem
Eisengitter gesicherte Tür ihres Bistros auf und ging schnurstracks
in ihr Büro. Tasche und Schlüssel legte sie auf das Sideboard.
Komisch, dachte sie, einen Blick auf den Schreibtisch werfend, ich
hätte schwören können, den Karteikasten gestern nicht mehr
eingeschlossen zu haben. Hab ich mich wohl geirrt! Sie bediente die
Kaffeemaschine, packte ihre beiden unterwegs eingekauften belegten
Brötchen aus und stellte Teller und Tasse auf ihren Schreibtisch.
Sie fuhr den Rechner hoch. Dann öffnete sie den Tresor, um die
Daten von den restlichen Karten in die Datei zu übertragen, wozu
sie gestern Abend keine Lust mehr hatte. Doch der Karteikasten war
auch nicht im Tresor. Dann muss Carlo ihn genommen haben. Aber was
um Himmels willen will er mit den Karteikarten anfangen, dachte
Vera. Sie hatte keine vernünftige Erklärung. Also blieb ihr nichts
anderes übrig, als auf ihn zu warten und ihn zu fragen, was er sich
dabei gedacht hatte. Es war zu blöde. Sie hasste es, zur
Untätigkeit verdammt zu sein. Vor allem, wenn andere daran schuld
waren. Ihn anzurufen, würde die Sache nicht beschleunigen, denn
sicherlich war er schon
unterwegs.        
    Nur mühsam bewegten sich die Zeiger
der Uhr, die über der Tür zu ihrem Büro angebracht war und auf die
sie alle zwei Minuten schaute, vorwärts. Noch eine halbe Stunde,
dachte sie. Nun gut, ändern kannst du es sowieso nicht. Sie
schnappte sich ihr Schminktäschchen, um nachzuholen, wozu sie in
der Früh nicht gekommen war. Sie öffnete die Tür zur Damentoilette
und bekam einen gehörigen Schreck. Das
kleine unvergitterte Fenster war aufgehebelt und hing schief in den
Angeln.
    »So ein Mist!« entfuhr es ihr. Jetzt
bloß nichts anfassen und sofort die Polizei rufen, signalisierte
ihr Verstand. Sie wählte 110, unsicher, ob das ein Fall für den
Notruf war. Aber egal. Hauptsache, die Polizei kam so schnell wie
möglich.
    »Leitstelle der Polizei«, meldete
sich am anderen Ende der Leitung der diensthabende Beamte. »Was
kann ich für Sie tun? Bitte nennen Sie zunächst Ihren
Namen!«
    »Guten Tag, hier ist Vera Corts. Bei
mir wurde heute Nacht eingebrochen«, erwiderte Vera.
    »Guten Tag, Frau Corts. Handelt es
sich um einen Wohnungseinbruch?«
    »Nein, ich betreibe ein kleines
Bistro in der Luisenstraße 94 A. Der Einbruch erfolgte vom Hof aus,
indem ein Toilettenfenster aufgehebelt wurde.«
    »Okay. Ich verständige sofort das
zuständige Kommissariat und die Spurensicherung. Warten Sie bitte
auf die Kollegen. Sie werden spätestens in einer halben Stunde bei
Ihnen sein. Bitte fassen Sie nichts an«, fügte der Beamte noch
hinzu und beendete das Telefonat. Vera schaute auf die Uhr, froh,
dass Carlo gleich kommen würde. Sie brauchte jetzt einen Halt.
Warum bloß bricht jemand ein und klaut nur die Karteikarten? Ein
Spinner! - war für sie die einzig plausible Erklärung. Vielleicht
ging es dem Täter ja auch nur um die Adressen, denn Vera pflegte
auf die Rückseiten der Karteikarten nach den Speed-Date-Partys
Geburtsdatum und Anschrift zu notieren. Das könnte sein. Wollte er
auf diese Weise an Single-Adressen kommen? Ziemlich bescheuert! Sie
schaute sich gründlich in den Räumen um. Nichts deutete auf einen
Einbruch hin. Außer dem Karteikasten fehlte nichts. Nicht mal die
offene Kassette mit Wechselgeld und Briefmarken hatte der Täter
angerührt … Gut, dass sie wenigstens die Tageseinnahmen im Tresor
deponiert hatte.
    War aber auch richtig blöd von mir,
den Karteikasten draußen zu lassen, dachte Vera. Sonst schließe ich
ihn immer mit ein. Warum nicht auch gestern,
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