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funny girl

funny girl

Titel: funny girl
Autoren: Anthony McCarten
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den Jungs hatte vor, sich zu melden – schon gar nicht gegenüber diesem Mann, von dem sie überzeugt waren, dass er, auch wenn er die Tat vielleicht nicht mit eigenen Händen begangen hatte, der Schuldige war.
    Willkürlich griff sich der Vater einen jungen Mann von gerade mal fünfzehn heraus, packte ihn am Revers seiner billigen Lederjacke: »Warst du das? Das warst du, oder? Gib’s zu!«
    »Er hat nichts gesagt!«, rief einer von seinen Freunden.
    »Er war’s nicht!«, ein anderer.
    »Lassen Sie ihn in Ruhe.«
    Und dann: »Haben Sie nicht schon genug angerichtet? Schämen Sie sich nicht?«
    Der Vater ließ den ersten jungen Mann los, als er das Wort »schämen« hörte, und stürzte sich auf einen anderen, gleichaltrigen, einen Jungen mit einem ersten Anflug von Bartwuchs, aus dessen Mund das Wort gekommen war. »Wer spricht hier von Schämen – dass ich mich beim Begräbnis meiner Tochter schämen soll? Wer wagt es, so was zu sagen? Für wen hältst du dich, dass du so was sagst? Meine Tochter ! Sie war meine Tochter !« Plötzlich standen Tränen in den wütenden Augen des Vaters.
    Aber die jungen Freunde des toten Mädchens blieben ungerührt, und aus einer ganzen Reihe von Kehlen kam leise und wie im Chor das Wort »Dreckskerl«.
    Der Vater stürzte sich mitten in das Grüppchen, und ohne einen Gedanken daran, wie es auf Außenstehende wirken würde, begann er auf sie einzuschlagen, verteilte rechts und links Ohrfeigen an die jungen Gesichter, schlug ihnen um die flaumigen Wangen, als wollte er wegschlagen, was gesagt worden war, obwohl es doch, einmal ausgesprochen, auf ewig in der Welt sein würde.
    Die Schlägerei war nicht mehr zu vermeiden. Andere Männer aus der Trauergesellschaft kamen gelaufen, entweder um dem alten Mann beizustehen oder den jungen Freunden des toten Mädchens, und mit der Feier – deren Stimmung von Anfang an so fragil gewesen war wie ein Schmetterlingsflügel – war es vorbei.
    Zwei junge Frauen, die ganz hinten in der Menge gestanden hatten, hielten es nicht mehr aus. Fast im Laufschritt verließen sie den muslimischen Teil des Friedhofs und hielten erst wieder inne, als sie an einige englische Eichen kamen; von da blickten sie mit tränenverschmierten Augen auf die Szene zurück, betrachteten voller Verachtung die Männer (die sich immer noch hin und her schubsten und in einem kurdischen Dialekt einfältige Drohungen und Beschimpfungen ausstießen) und voller Verzweiflung die Frauen, die, ganz wie man es erwartete, mit bereiften Armen fuchtelten und nach Mäßigung riefen (sie aber nicht erwarteten).
    »Der Dreckskerl hat sie umgebracht«, zischte Banu. »Und jetzt spielt er den Unschuldigen.«
    »Ich weiß.«
    »Ihr eigener Vater. Hat sie vom Balkon geworfen.«
    »Ich weiß, ich weiß. Der Dreckskerl.«
    »Und ihr eigener Bruder hat ihm dabei geholfen. Hat geholfen, sie runterzuwerfen. Einer hat sie an den Armen gepackt, einer an den Füßen, und dann ab übers Geländer.«
    »Habe ich auch gehört.«
    »Eins, zwei drei… und schwuppdiwupp.«
    »Ich weiß, ich weiß. Ich weiß. Aber keiner hat es gesehen, oder?«
    »Keiner, aber alle wissen, was passiert ist. Dreckskerle.«
    »Dreckskerle.«
    Azime (oder Azi, wie die meisten sie nannten) und Banu waren Schulfreundinnen des toten Mädchens gewesen, das heißt, bis die Eltern das Mädchen von einem Tag auf den anderen von der Schule genommen hatten, um sie »zu Hause zu erziehen«, was sich für ein Mädchen in Green Lanes im Londoner Stadtteil Harringay in der Regel mit »unbezahlte Arbeit im Familiengeschäft, bis ein Ehemann gefunden ist« übersetzen lässt. In diesem Falle war es aber die Strafe dafür, dass sie mit einem Jungen ausgegangen war, einem, der kein Kurde war, nicht einmal Muslim. Ein ganzes Jahr Strafe, wie sich herausstellte, ein Tagesgefängnis, achteinhalbtausend Stunden, die sie fast ganz auf ihrem Zimmer verbringen musste, das sie nur zu den Mahlzeiten verließ. Und nach diesem Jahr, das ihr letztes sein sollte, durfte sie als Belohnung wieder zurück auf die Schule.
    Und nun war sie tot.
    Banu und Azime zupften ihre Kopftücher zurecht und verließen den Friedhof mit seiner Moschee und der langen himmelwärts weisenden Fahnenstange, an der die Flagge mit dem kurzen Dolch und dem Stern darüber wehte; ließen die Trauergesellschaft zurück, die in ihrer Wut, ihrem Gebrüll und ihrer Gewalttätigkeit anscheinend vergessen hatte, dass es jemanden zu betrauern gab.
    Sie gingen zu Azimes Haus, durch
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