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funny girl

funny girl

Titel: funny girl
Autoren: Anthony McCarten
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der Realität. Er tänzelte, wechselte die Schlaghand, wich mit seinem Avatar den Attacken des anderen aus, schlug die Gegner einen nach dem anderen k.   o., todsichere Treffer auf Kopf und Körper, und stieg Schlag für Schlag höher in der imaginären Liste der Anwärter auf den Mittelgewichtstitel.
    In der Küche machte Sabite derweil das Essen. Von Zeit zu Zeit hielt sie im Hacken und Rühren und Stampfen inne, griff sich zwei Topfdeckel und schlug sie wie ein Orchestermusiker zusammen, und dazu rief sie mit lauter Stimme: »Immer nur lachen, immer vergnügt! Es wird zu viel gelacht in diesem Haus!«

2
    An ihrem Schreibtisch im väterlichen Möbelgeschäft schrieb Azime auf die Rückseite einer Rechnung (für einen Diwan, zwei Fernsehsessel und eine Ottomane zur sofortigen Auslieferung an ein Rentnerehepaar in Finsbury Park, dessen Kinder ausgeflogen waren und das deswegen jetzt die Chance hatte, Möbel aus anderen als aus praktischen Gründen zu kaufen) einen alten Witz, den sie später zu der Liste hinzufügen würde, die sie insgeheim in einem Ordner auf dem Bürocomputer mit der Bezeichnung »Couchgarnituren« führte: »Harte Arbeit mag sich langfristig auszahlen, aber Faulheit zahlt sich sofort aus.«
    In diesem improvisierten Büro, nicht größer als ein Fahrkartenschalter und von den Möbeln selbst und den männlichen Angestellten durch eine Trennwand mit einem kleinen Plexiglasfenster separiert, sollte sie fleißig, fleißig, fleißig sein und freudestrahlend die Rechnungsbücher ihrer Familie führen. Aber wie konnte sie vor Freude strahlen? Fleißig sein? Tatsächlich fand Azime ihre Arbeit öde, öde, öde. Und so ließ sie jedes Mal ihre Pflichten ruhen und wechselte zu dem Ordner »Couchgarnituren«, wenn ihr eine neue Idee kam, und hier, wo sie die tollen Witze anderer Leute sammelte, trug sie auch ihre eigenen Einfälle und Beobachtungen ein.
    Bei Azimes eigenen Einfällen ging es meistens um alltägliche Dinge, Kleinigkeiten zu großen Fragen wie etwa Einkaufen, Schönheitspflege, ihr Gewicht, ihre Freunde, ihre Familie, oder einfach nur, wie es sich anfühlte, wenn man Azime Gevaş war, in diesem Augenblick, eine junge Frau, die für ihren Vater arbeitete, im Hinterzimmer eines hässlichen Möbelladens in Nordlondon an einem langweiligen Tag. Alberne Einfälle meistens, Bekenntnisse, kleine Beobachtungen, Dinge, die sie bedauerte oder die sie ärgerten – Sachen, die vermutlich nie wieder gelesen würden, weder von ihr selbst noch von sonst einer lebenden Seele: ein unsichtbares Logbuch, so nutzlos wie ein Strichcode auf einer Erdnuss, ein uneheliches Kind am Vatertag, eine Fliegentür an einem U-Boot, ein Schweineschnitzel in der Synagoge, Selbstbedienung im Bordell, ein Transvestit bei den Taliban.
    Warum machte sie das überhaupt? Wenn ihre Gedanken so wertlos waren, warum hielt sie sie dann fest? Warum machte sie sich die Mühe und tippte den Schwachsinn überhaupt ein?
    Insgeheim war sie seit zehn Jahren Comedy-Fan und versteckte in »Couchgarnituren«, neben ihren eigenen Ideen, eine Liste von Links zu bestimmten YouTube-Clips. Diese ultrageheimen Clips waren eine Art persönliche Hall of Fame ihrer Lieblingscomedians mit ihren besten Nummern. Oft hatte sie sie Döndü vorgeführt, die sie inzwischen auch auswendig kannte, so dass sie den Schwestern als eine Art geheimes Handbuch des Widerstands dienten, ein Ratgeber, wie man als Gevaş-Tochter überleben konnte. Inspiriert von Komikern wie Bill Hicks, Robin Williams, Woody Allen, Eddie Izzard, George Carlin und Eddie Murphy hatte Azime begonnen, eigene lustige Ideen zu sammeln, obwohl ihr klar war, dass sie nie auch nur annähernd so klug, witzig oder radikal sein würde wie diese Giganten, selbst wenn sie bis an ihr Lebensende fleißig Einfälle in den »Couchgarnituren« notierte. Aber eins konnten ihre Einfälle immerhin beweisen: dass Azime Gevaş einen eigenen Kopf hatte, einen hoffentlich interessanten Kopf, der zumindest hin und wieder fähig war, denkwürdige, originelle und manchmal lustige Ideen hervorzubringen, die gut genug waren, irgendwo aufgezeichnet zu werden.
    Ihr war bewusst, wie gefährlich es war, so einen Ordner auf dem Computer ihres Vaters zu haben, und achtete sorgfältig darauf, jeden Abend die Verlaufsliste ihrer Internetbesuche so sorgfältig zu säubern, wie ihr Vater das polierte Mahagoni seiner kitschigen Möbel.
    Azime Gevaş. Gerade zwanzig geworden. Eins siebzig. Fünfzig Kilogramm, etwas weniger als
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