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Corvidæ / Haus der Jugend [Twindie: Zwei Romane – ein Preis] (German Edition)

Corvidæ / Haus der Jugend [Twindie: Zwei Romane – ein Preis] (German Edition)

Titel: Corvidæ / Haus der Jugend [Twindie: Zwei Romane – ein Preis] (German Edition)
Autoren: Simone Keil , Florian Tietgen
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Prolog
    G roßmutter Rose starb an einem sonnigen Herbsttag. Sie rechte das Laub vor ihrem Haus zusammen, räumte die Geräte in den Schuppen zurück, füllte die Vogeltränke mit frischem Wasser, fütterte Johnny Cash, setzte sich in ihren Ohrensessel, trank einen Sherry und schloss die Augen.
    Ich fand sie vor dem Morgengrauen. Lizzie schlief noch, doch ich wollte unbedingt sehen, wie die Sonne aufgeht. Ich mochte schon damals die Stille, die sich am Tagesanfang über die Welt legt, und mag sie auch heute noch.
    Ich kraulte Johnny, der seinen Kopf in Großmutters Schoß gebettet hatte, hinter den Ohren und setzte mich neben ihn auf den Boden, beobachtete die Raben, die still auf dem Fensterbrett hockten und mit uns warteten, bis die Sonne aufgegangen war und das Wohnzimmer in ein orangefarbenes Licht tauchte. Erst dann erhoben sie sich mit einem lang gezogenen Kraa in die Lüfte und ich weckte meine Schwester.
    Sie weigerte sich Großmutter anzusehen, sie weigerte sich eine Woche lang zu essen, sie weigerte sich über ihren Tod zu reden und bald sprach sie gar nicht mehr. Noch niemals in meinem Leben hatte ich mich so einsam gefühlt.
    Der menschliche Geist ist ein merkwürdiges Gebilde. Selbst Dinge, die so unfassbar schwer zu ertragen sind, verblassen mit der Zeit, verändern ihre Farbe und Form, und irgendwann scheinen sogar die schlimmsten Augenblicke nur noch Geschichten zu sein, die man einmal gelesen hat. Als wäre unser Leben ein Buch, in dem ein Schriftsteller unsere Erinnerungen überarbeitet, sie umformuliert, ihnen eine neue Perspektive mitgibt und sie für uns niederschreibt.
    Großmutter Rose vermachte Lizzie und mir ihren gesamten Besitz, der hauptsächlich aus ihrem Haus und Grundstück bestand. Meine Mutter kniff bei der Testamentseröffnung nur die Lippen zusammen, wie sie das immer getan hatte, wenn es um Großmutter ging.
    Meine Schwester zog sich vollständig in sich zurück, selbst ich konnte sie nicht mehr erreichen, und als unsere Eltern nicht mehr mit ihr fertig wurden, schickten sie sie in ein Internat.
    Wir telefonierten gelegentlich, und in den großen Ferien kam sie nach Hause. Aber es war nie wieder so wie damals, als wir noch Kinder gewesen waren, zusammen in Großmutters Haus die Schulferien verbrachten, gemeinsam in die Reiche unserer Fantasie vordrangen, Abenteuer erlebten und unsere Gedanken teilten wie unsere Kleider.
    Großmutter Rose war fast zwanzig Jahre tot, als Lizzie sich bei mir meldete und auf unser Erbe zu sprechen kam. Keiner von uns hatte in dem Haus gelebt, aber ich wäre niemals auf die Idee gekommen, es zu verkaufen, denn das wäre gewesen, als verkaufte ich meine Kindheit. Doch Lizzie war offenbar erwachsen geworden.

Teil 1: grau
     

1
    E s roch nach Schimmel und einem Hauch von Flieder. Staubkörnchen tanzten in dem spärlichen Licht, das durch die blinde Scheibe des Wohnzimmerfensters fiel. Ich öffnete das Fenster und atmete die kühle Herbstluft ein, schmeckte meine salzigen Tränen.
    Auf dem Tischchen neben Großmutters Ohrensessel lag ein aufgeschlagenes Buch, so als wäre sie nur kurz in die Küche gegangen, um sich einen Sherry zu holen. Die Stehlampe mit den Magnolienblüten auf dem Schirm, das Sofa, Johnnys zerwühlte Decke. Ich nahm sie in die Hand und faltete sie ordentlich zusammen.
    Nie werde ich seine Augen vergessen, diesen Blick, als sich die Türen des Leichenwagens hinter Großmutters Sarg schlossen. Es hatte geregnet an dem Tag, der Himmel war eine breiige graue Masse. Johnny sah dem schwarzen Kombi des Bestattungsunternehmens nach, legte sich auf die Fußmatte vor der Haustür und war nicht mehr wegzubewegen. Meine Mutter kontrollierte die Fenster, zog sämtliche Stecker aus den Dosen, und als wir nach Hause wollten, war der Labrador verschwunden. Wir haben nach ihm gerufen, in dem kleinen Waldstück gesucht, doch er war nirgends zu finden. Also hat mich meine Mutter ins Auto gezerrt und wir sind ohne ihn gefahren.
    Ich legte Johnnys Decke an ihren Platz zurück, holte mein Gepäck aus dem Auto und ging in die Küche, um Teewasser aufzusetzen. Ein Klopfen ließ mich herumfahren. Auf dem Fensterbrett saß ein Rabe und tickte mit dem Schnabel an die Scheibe des Küchenfensters.
    „Habt ihr aufgepasst?“, fragte ich. „Die ganzen Jahre?“
    Mein Brustkorb war plötzlich zu eng, ich setzte mich auf einen der dunklen Holzstühle und stützte den Kopf in die Hände. Ich fühlte mich schuldig, weil ich mich nicht um das Haus gekümmert hatte.
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