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Funkstille

Funkstille

Titel: Funkstille
Autoren: Klett-Cotta Verlag
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Das machte es natürlich schwieriger, denn dann ist es wichtig, dass die andere Person zurückkommt, um den Selbstwert des Verlassenen zu bestätigen. Oder aber Ute schafft es, sich klarzumachen, dass vielleicht auch ihre Schwester massive Schwächen und Störungen hat und dass das Ganze gar nicht so viel mit ihr selbst zu tun hat. Schließlich hat Claudia ihr komplettes vorheriges Leben verlassen«, so Udo Rauchfleisch.
    Doch solange das nicht geklärt ist, wird Ute nicht abschließen können, entgegne ich. »Das gilt für alle Beziehungen, die nicht innerlich abgeschlossen werden können. Es gibt ja beispielsweise Scheidungen, an denen einer oder beide ein Leben lang kauen, und wenn man mit diesen Leuten 30 Jahre nach der Scheidung spricht, hat man den Eindruck, sie wäre gerade gestern gewesen, weil innerlich nicht losgelassen wird. Das kann krank machen, und es verhindert auch das Eingehen neuer Beziehungen. Man muss auch loslassen können«, so Professor Rauchfleisch.
    Gibt es eine Anzahl von Jahren, nach denen man sagen kann: Jetzt ist die Funkstille nicht mehr aufzulösen, der Kontakt nicht wieder gesund aufzunehmen?, frage ich Udo Rauchfleisch. »Das hängt sehr von den Lebensumständen beider ab und davon, ob es neue, andere Beziehungen gibt – und auch davon, was in den Personen vor sich gegangen ist. 20 Jahre Funkstille! Da ist es mehr als unwahrscheinlich, dass der Kontakt wieder aufgenommen werden kann. Fünf Jahre, das mag noch gehen, aber auch das ist eine lange Zeit. Das gilt auch für Abbrüche in Familien. Wenn der Sohn seit 20 Jahren nicht mehr mit der Mutter spricht, will er definitiv keinen Kontakt mehr. Das muss die Mutter akzeptieren.« Es scheint zu gelten: Je länger die Funkstille andauert, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass sie endgültig ist.
    Die Funkstille ist ein radikaler Schnitt. Dennoch muss sie kein endgültiger Bruch sein. Bei Kontaktabbrüchen in Familien habe sich bewährt, den Abbrecher immer wieder zu den Familienfesten einzuladen, so Professor Rauchfleisch: »Ich hatte diesen Fall. Und tatsächlich kam der ›verlorene Sohn‹ irgendwann zu der Familienfeier. Seitdem meldet er sich regelmäßig ein- bis zweimal im Jahr.« Am Ende unseres Gesprächs möchte ich noch vom Fachmann wissen: Wenn die Funkstille etwas Gutes hat, was könnte das sein? »Sie macht darauf aufmerksam, dass ein massiver Konflikt besteht, etwas, was jemand vorher vielleicht überhaupt nicht wahrgenommen hat. Gerade für die Situation, in der die verlassene Person alle Signale überhört hat, ist in dem Moment klar: Da ist etwas Massives vorgefallen, und wenn es gelingt, das zu klären, dann ist es auch möglich, die Beziehung zu retten.« Ich fahre noch einmal nach Kiel, um Lisa-Maria W. zu treffen. Mittlerweile schweigt Michael seit über zwei Jahrzehnten. Und doch weiß sie von ihren zwei anderen Kindern, Christian und Christine, dass es bei ihrem Sohn große Veränderungen gibt. Er lebt mittlerweile mit einer fast 30 Jahre jüngeren Frau in Afrika, hat ein Haus gekauft und will heiraten.
    Ich frage Lisa-Maria W., ob sie endgültig abgeschlossen habe oder ob sie sich immer noch ein Treffen mit Michael wünsche, wo auch immer. Sie lächelt und spielt in Gedanken eine Szene durch: »Ich würde mein letztes Geld zusammenkratzen und lieber heute als morgen nach Afrika fliegen. Also, ich komme nach Afrika, ich würde anklopfen und fragen: Darf ich reinkommen? Wenn er mich nicht reinbitten würde, dann würde ich nach Deutschland zurückfliegen. Dann würde ich endlich mal heulen. Ich heule sonst nie! Wenn er mich aber reinbitten würde, würde er sicherlich erst mal zu seiner Frau sagen: Koch’ Kaffee. Dann würde er mich fragen: Was willst du? Dann würde ich sagen, dass ich mich entschuldigen will. Er fragt mich: Für was? Ich antworte: für die Funkstille. Ja, ich würde mich dafür entschuldigen, weil ich die Veranlassung dafür bin. Wenn er aber sagen würde: Ich habe zwar mit dir gebrochen, aber das hat nichts mit dir zu tun, dann würde ich ihn begraben wollen. Weil er dann ein armer Geselle ist.« Aber was wäre das Erste, was sie Michael nach 20 Jahren würde sagen wollen, frage ich noch einmal nach.
    Sie antwortet: »Aus dem Bauch heraus würde ich sagen: Verzeihung – mehr nicht.«

Nachwort
    »Nicht schweigt in Gedanken, wer mit der Stimme schweigt«
    Dieses Buch ist unfertig, wie ein Abschied an einem Bahnhof, bei dem nicht alles gesagt wurde, obwohl es noch so viel zu sagen
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