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Funkstille

Funkstille

Titel: Funkstille
Autoren: Klett-Cotta Verlag
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gesund. Es gibt einen Bruch, aber die Kriegsparteien haben Frieden geschlossen. Die Beziehung ist reif. Ich ziehe aber heute noch Grenzen, weil meine Mutter manchmal immer noch verbal etwas übergriffig ist.«
    Jans Äußerungen machen deutlich, dass der Kontaktabbruch bei ihm aus Schwäche und Unsicherheit geboren wurde. Erst als er sich seiner selbst sicher war, konnte er wieder mit seiner Mutter sprechen. Den Zeitpunkt, zu dem er als junger Mann spürte, dass es im Verhältnis zur Mutter so nicht mehr weitergehen konnte, kann Jan heute nicht mehr benennen. Die Funkstille entsteht eher leise, beiläufig, ja lautlos und ohne Vorwarnung. Deshalb ist es für beide Seiten so schwierig, rechtzeitig einzulenken, etwas zu tun, um das Dilemma abzuwenden und die Beziehung zu retten. Die wichtigsten Dinge erschließen sich erst retrospektiv. Sie treten zunächst unbemerkt ins Leben und erobern sich in unserem Denken einen festen Platz, der oft über lange Zeit unanfechtbar ist. Jan ist davon überzeugt, dass die Funkstille auch für seine Mutter das Beste war; diese hingegen sieht das etwas differenzierter. Natürlich habe sie durch Jan die Folgen ihrer Missbrauchserfahrung erst erkannt und so aufarbeiten können, doch sein Schweigen sei fast ebenso traumatisierend gewesen wie der Missbrauch selbst, so Isabella M. Die Verletzung, die er ihr zugefügt hat, sieht Jan jedoch nicht. Das Verhältnis zwischen Mutter und Sohn scheint mir jetzt recht abgeklärt, desillusioniert, entzaubert, und man erkennt an ihrer Geschichte sehr gut, wie zerstörerisch Schweigen sein kann.
    Sie liebe ihren Sohn, erwarte aber nichts mehr von ihm, sagt die Mutter, und der Sohn resümiert: »Es war Ground Zero, ich achte sie, aber ich liebe sie nicht mehr.«
    »Wir sind in Kontakt, aber es ist immer noch stressig für uns beide«, erzählt mir der Wissenschaftler in unserem letzten Gespräch. Vorsichtig haben sich er und seine Schwester einander wieder angenähert; die gemeinsamen Gespräche beim Therapeuten finden immer noch alle zwei Monate statt. Er, der große Bruder, hat schmerzhaft erfahren müssen, dass seine Überheblichkeit und sein übersteigertes Selbstbild von einem Mangel herrühren. Dass er diesen Mangel nun erkennt, macht die Diskrepanz zwischen Wunschbild und Wirklichkeit nur noch deutlicher. Seine stets unterschätzte Schwester habe ihm gezeigt, dass tiefe Beziehungen wichtiger als äußerlicher Erfolg seien, sagt er heute. Er brauchte sie mehr als sie ihn – das aber weiß er erst seit den Jahren des Schweigens.
    Bei den beiden Geschwistern ging es in der Funkstille um die Anerkennung von Bedürftigkeit – der eigenen wie der des anderen. Nun können sie benennen, welche Knoten es in ihrer Beziehung gab und noch gibt. Am Ende, denke ich, ist es besser, die Frage nach dem Warum durch ein »Wie war es möglich, dass …?« zu ersetzen.
    Der Psychotherapeut Robert Stracke sagt: »Die Funkstille löst bei den Betroffenen eine emotionale Revolution aus, wie ein Unfall, der Tod eines geliebten Menschen oder ein Absturz. Für beide Seiten ist sie ein Schicksalsschlag, und wenn die Betroffenen ihre Fehler, Verletzungen oder Missverständnisse erkennen und offen klären, dann kann die Beziehung besser und tiefer als zuvor werden.«
    Eine anhaltende Funkstille hingegen zementiert die negative Einstellung des einen zum anderen und schlimmstenfalls auch zu sich selbst. Das Grundproblem bleibt, denn durch die Funkstille ist nichts beendet, und beide, Abbrecher wie Verlassener, bleiben innerlich miteinander beschäftigt. Für eine Weile auf Abstand gehen, aber die Tür nicht völlig zuschlagen, kann in gewissen Situationen hilfreich sein, unterstreicht auch Dr. Wirth. Wenn beide – Abbrecher und Verlassener – nach einer Zeit des Rückzugs offen und im Austausch über die Beziehung sprechen und das Verhältnis neu strukturieren, sei tatsächlich eine emotionale Revolution denkbar und der Gewinn für beide groß.
    Das Nein als erste und unmittelbare Aussage des Schweigens muss also keine endgültige Ablehnung sein, sondern kann auch als Angebot gesehen werden, die Beziehung auf eine Weise wieder aufzunehmen, die beiden guttut. In diesem Fall wäre die Funkstille »nur« eine Notbremse, eben ein Raum, der geschaffen wird, damit ein Notsignal Gehör findet.
    So erlebte es auch Rico. Nach einer Drogentherapie ließ er sich – wie seine Mutter – psychotherapeutisch betreuen. Nachdem er zu eigener Selbständigkeit und Unabhängigkeit gefunden
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