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Funkstille

Funkstille

Titel: Funkstille
Autoren: Klett-Cotta Verlag
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zu nehmen.
    Die Funkstille kann eine Chance sein, denn sie ist zunächst eine Grenzziehung, und Begegnung geschieht immer an der Grenze zwischen Ich und Du. Wenn sie gelingt, sind die Grenzen nicht mehr starr. Jeder bleibt bei sich, jedoch bereichert und erweitert um die Erfahrung mit dem anderen. Grenzen setzen heißt, sich gegenseitig als Persönlichkeit zu respektieren. Maja findet sogar, Grenzen zu setzen sei ein Zeichen von Liebe. Die Funkstille kann also auch etwas Positives haben, wenn die Beteiligten nicht auf ihren Positionen beharren. Sie müssen sich bewegen, vielleicht auch von alten Verhaltensweisen Abstand nehmen, um die Position des anderen verstehen zu können.
    Nach fünf Jahren hat Maja den Kontakt zu ihrer Mutter wieder aufgenommen. Es ist ihr gelungen, deutlich zu machen, dass sie diesen Rückzug brauchte, um wieder ein Gespür dafür zu bekommen, was sie selber will. Tatsächlich sei das Verhältnis jetzt viel besser, respektvoller und sogar liebevoller, meint Maja. Mutter und Tochter können einander ohne Übergriffigkeit wieder begegnen. Die Grenzüberschreitung sei nicht mehr da, und somit bestünde auch für sie kein Grund mehr, sich von der Mutter zu distanzieren.
    »Wofür wir Worte haben, darüber sind wir auch schon hinaus«, schrieb Nietzsche. Nach zehn Jahren »Eiszeit«, wie Jan die Funkstille gerne nennt, hat auch er wieder Kontakt zu seiner Mutter. »Sie hat mich irgendwann angerufen. Ich habe abgeblockt, aber dann hatte ich kurze Zeit nach dem Anruf meinen ersten Arbeitsvertrag in der Tasche, ich hatte eine tolle Frau, Geld, ein schickes Appartement in München. Kurz: Ich hatte plötzlich Erfolg und fühlte mich sicher. Ja, ich war ein Mann! Ich hatte es geschafft, mich freizuschwimmen. Es war wie ein Sieg auf ganzer Linie. Ich weiß nicht, warum, aber plötzlich konnte ich sagen: Okay, lass’ uns reden. Ich fühlte mich in diesem Augenblick sicher.« Jan und seine Mutter sprachen wieder miteinander, immer wieder. Tränen flossen, es war keine friedliche Annäherung, sondern immer noch ein Kampf. Jan hat seiner Mutter verziehen, weil er glaubt erkannt zu haben, dass sie nicht vorsätzlich gehandelt hatte. Sie sei kein böser Mensch und habe es eben so gut gemacht, wie sie konnte. Aber sie habe sich »ihre Punkte neu verdienen« müssen, so Jan. Er wollte sich erklären und forderte im Gegenzug eine Entschuldigung von ihr, die er aber nicht sofort bekam.
    »Die Jahre des Schweigens basierten auf meiner Einsicht, dass sie mein Leben kaputtgemacht hat. Dass ich den Kontakt wieder aufgenommen habe, geschah vielleicht aus einem Augenblick der Gnade heraus, vielleicht auch aus einer Art Weisheit oder vielleicht auch aus dem Wunsch heraus, zu verstehen. Ich erkannte außerdem, dass meine Mutter mir nicht absichtlich schaden wollte, und das war für mich die Basis, mich mit ihr wieder an einen Tisch zu setzen. Ich wollte ihr sagen, was mich umtrieb. Die von mir geforderte Entschuldigung bekam ich allerdings erst Jahre später. Die Entschuldigung hieß ja nicht, dass sie schuldig war. Die Entschuldigung besagt, dass sie in Ahnungslosigkeit gehandelt hat. Aber für mich als ihr Kind ist es eben scheißegal. Mich interessiert nur der Effekt, und der Effekt war die Zerstörung meines Lebens. Danach kann man fragen: War es Vorsatz oder nicht? Und es war eben kein Vorsatz. Schuld und Kausalität sind immer zwei Dinge. Meine Mutter konnte nicht anders, trotzdem kann man eben sagen: Ich mache das nicht mit. Und natürlich war vieles von dem, was ich gesagt und getan habe, nicht gerecht. Alles hat sie abbekommen, auch meine Enttäuschung über den Vater, der für mich nicht da war. Aber ich habe mir meine Eltern auch nicht ausgesucht.«
    Es erstaunt mich ein wenig, dass immer noch eine gehörige Portion Wut mitschwingt, wenn Jan über seine Mutter spricht und erklärt: »Sie ist heute nicht mehr die Mutter meiner Kindheit; ich weiß auch nicht, ob ich sie noch liebe, aber ich empfinde Respekt für sie.« Es gebe einen Rest an Vertrautheit, aber er habe seine Mutter in den Schweigejahren aus seinem Leben verbannt. Und das sei nicht ohne Spuren geblieben. Heute gebe es allerdings keine Gehässigkeiten mehr zwischen ihnen. Es gebe Meinungsverschiedenheiten, auch Situationen, in denen er ihr sofort die »Rote Karte« zeige, und sie habe das offenbar akzeptiert. Es gebe keine schwelenden Konflikte mehr. Doch das Grundproblem, das die Vergangenheit betrifft, besteht fort: »Die Beziehung ist nicht
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