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Funkstille

Funkstille

Titel: Funkstille
Autoren: Klett-Cotta Verlag
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Wesentliche war. Auch scheinbar Nebensächliches ist im Hintergrund einer Beziehung wirksam. Eine Psychotherapie kann solche Dinge aufdecken. Manchmal reicht es sogar schon aus, wenn die Betroffenen erkennen, dass die Gründe für die Funkstille nur bis zu einem gewissen Grad erklärbar sind. Möglicherweise fällt es damit bereits leichter, sich Neuem zuzuwenden. Letztendlich, so glaube ich, muss man lernen, auch mit unbeantworteten Fragen zu leben.
    Ute und Claudia haben seit fast zwei Jahrzehnten keinen Kontakt mehr. Claudia konnte möglicherweise gar nicht anders, als mit ihrer gesamten Vergangenheit abzuschließen. Um den Schmerz zu überwinden, musste sie ihn und alles, was mit ihm verbunden war, abschneiden. Ute aber dreht und wendet immer wieder denselben Gedanken, fragt sich, was sie falsch gemacht hat. Verändern könnte sich in der Beziehung der beiden Schwestern erst dann etwas, wenn Ute es schaffte, ihre verzweifelten Erklärungsversuche loszulassen, oder wenn Claudia den Mut fände, Ute zu sagen, warum sie die Funkstille brauchte, selbst wenn sie sich danach wieder zurückziehen würde. Erzwingen lässt sich nichts – das haben wir gesehen, als Ute und Claudia im Treppenhaus vor Claudias Wohnung aufeinander trafen. Doch Ute kann sich nun immerhin sagen, dass sie zumindest versucht hat, den Kontakt wieder herzustellen, auch wenn Claudia ihr eine Erklärung schuldig blieb, sich sogar verleugnete.
    Ich frage Ute in unserem letzten Gespräch, ob nicht vielleicht der Wunsch, etwas zu sehen, was es so nicht gibt – ein Indiz, ein Schlüsselerlebnis –, ihr den Blick auf die Realität verstellt. Erstaunlicherweise nickt Ute zaghaft, und ich habe das Gefühl, dass in ihr etwas in Bewegung gekommen ist. »Vielleicht wäre Claudia heute auch nur noch eine Fremde für mich, uns fehlen immerhin 20 Jahre! Ich muss jetzt lernen, dieses Kapitel in meinem Leben abzuschließen, auch wenn es mir unendlich schwerfällt.« Wir blicken uns an, und ich spüre, dass Ute verstanden hat, dass sie es nicht in der Hand hat, ob Claudia sich je melden wird, und dass es vielleicht auch besser so ist, wie es ist. Doch sie wäre nicht Ute, wenn sie nicht noch einen Gedanken nachschicken würde: »Ich bin mir aber sicher, dass ich für Claudia nicht gestorben bin.« Ich frage nach: »Du willst wissen, ob sie an dich denkt?« Ute schaut mich an und sagt nur: »Ja, das ist es.«
    Professor Martin Teising ist skeptisch, wenn es darum geht, inwieweit der Verlassene einen Neuanfang machen kann, ohne dass es noch einmal irgendeine Verständigung mit dem Abbrecher gab: »Ich glaube, es ist eine Illusion des Abbrechers, dass er glaubt, einen endgültigen Schnitt machen zu können. Wenn man flieht, nimmt man alles aus einer Situation mit. In der Funkstille ist die Beziehung immer Präsens. Sie wird nicht zur Vergangenheit. Man trägt seine Erfahrungen und Erinnerungen ständig mit sich. Die kann man nicht auslöschen.« Ich werfe ein: »Kann man damit leben?« »Nein, das geht nicht«, entgegnet Teising ohne Einschränkung. »Aber die Abbrecher leben doch damit!«, wende ich ein. »Aber die Frage ist, wie!«, so der Experte.
    Die Funkstille, betont er, sei für den Verlassenen, aber vor allem auch für den Abbrecher eine extrem ungesunde Strategie. Sie ist eine Kontaktstörung, und gleichzeitig ist Kontakt das einzige Mittel, um aus der Funkstille gesund herauszukommen. Das macht dieses Thema so schwierig. Ich bedauere sehr, dass wir mit Claudia gar nicht und mit Michael nicht ausführlicher sprechen konnten. Beides wäre sicherlich erhellend gewesen – nicht nur für uns. Vielleicht ging es um Missverständnisse und falsche Botschaften, die durch ein Gespräch wieder zugänglich geworden wären. Möglicherweise weiß der Abbrecher manchmal selbst nicht, warum er tut, was er tut. Macht man nicht manchmal Dinge, die vollkommen widersprüchlich sind, wissend, dass sie falsch sind – und dennoch kann man einfach nicht anders?
    Es kommt vor, dass der Abbrecher plötzlich wieder auftaucht, häufig dann, wenn der Verlassene sich von ihm gelöst hat. Meine Freundin Vicky, längst neu liiert, erlebte, dass sich ihr griechischer Ex-Freund Kyrill nach über einem Jahr Funkstille wieder bei ihr meldete. Er wollte sich mit ihr treffen, sich erklären, vielleicht gar einen Neuanfang wagen. Doch Vicky konnte ihm nicht verzeihen, und so gab es für sie und auch für ihn kein Zurück mehr. Telefonisch erklärte Kyrill dennoch, was ihn veranlasst hatte,
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