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Fürchte dich nicht!

Fürchte dich nicht!

Titel: Fürchte dich nicht!
Autoren: Grafit
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geeignet, fremde Planeten zu besiedeln, als der Mensch es jemals sein würde. Allerdings würden sie dazu wohl kaum eine Gelegenheit bekommen. Denn Zecken waren bei allen anderen Lebewesen ziemlich unbeliebt. Was die Zecken nicht störte. Sie hielten Wirbeltiere für große, leckere Mahlzeiten.
    Im Grunde bestand der Sinn des Zeckenlebens darin, auf die nächste Nahrung zu warten. Darauf waren alle Sinnesorgane ausgerichtet. Zecken nahmen einen möglichen Wirt schon aus weiter Entfernung wahr. Sie spürten Vibrationen, kleinste Temperaturveränderungen. Mit ihrem mobilen Chemielabor, dem hallerschen Organ am letzten Beinelement des ersten Beinpaares, registrierten sie Ammoniak, Kohlendioxid, Milchsäure und Buttersäure, das, was Menschen und Tiere absonderten, wenn sie atmeten und schwitzten. Hatte die Zecke einen Wirt gefunden, ließ sie sich Zeit. Kein Quickie wie bei einer Mücke oder einer Bremse, Stachel rein und wieder weg – das kam für die Zecke nicht infrage. Mit Muße suchte sie eine optimale Einstichstelle. Zecken waren sehr wählerisch, sie bevorzugten warme, gut durchblutete, dünne Haut, eine Kniekehle oder den Haaransatz. Oft dauerte es Stunden, bis die Zecke ihre Blutmahlzeit begann. Und dann ging sie sehr umsichtig vor. Sie benutzte Gerinnungshemmer, Betäubungsmittel und entzündungshemmende Wirkstoffe, um keine Aufmerksamkeit zu erregen. Denn für eine ausgewachsene, weibliche Zecke war das mehrtägige, opulente Blutschlemmen gleichzeitig die Henkersmahlzeit. Danach kamen nur noch Eierlegen und Tod.
    Viola de Monti beschäftigte sich seit Jahren mit Zecken. Sie kannte die Namen fast aller achthunderfünfzig auf der Erde lebenden Arten, ihre Verbreitungsgebiete und die Krankheiten, die sie übertrugen. De Montis Aufgabe war es, die von Zecken ausgehenden Gefahren einzuschätzen. Wo traten neue Fälle von Borreliose und Frühsommer-Meningoenzephalitis auf, wo lagen Risikogebiete, für die Warnungen und Impfempfehlungen ausgesprochen werden mussten? Welche Wanderbewegungen brachten neue Zeckenarten und bislang unbekannte Krankheiten nach Deutschland? Musste man sich vor Anaplasmen, Rickettsiosen, dem Krim-Kongo-Fieber oder dem Q-Fieber wappnen, Plagen, die im südlichen Europa oder in anderen Erdteilen von Zecken ausgingen? Denn dass Zecken zu den Gewinnern der Klimaerwärmung gehörten, stand außer Frage. Sie kletterten in größere Höhen und strebten unaufhaltsam nordwärts. In Schweden hatten sie innerhalb von zehn Jahren rund hundert Kilometer überwunden. Auch in Deutschland nahm die Zeckenpopulation infolge der milden Winter rasant zu. Und der Gemeine Holzbock, die verbreitetste Zeckenart, war längst nicht mehr der einzige Krankheitsüberträger. Von Osten näherte sich die Taigazecke und von Süden rückte Dermacentor reticulatus, die Auwaldzecke, heran.
    Viola griff nach einem Untersuchungsbericht, der sich mit der bakteriellen Verseuchung von Auwaldzecken beschäftigte. In vierzig Prozent der Tiere hatte man Rickettsien gefunden, kleine Bakterien, die für eine ganze Reihe von Krankheiten verantwortlich waren, von harmlosen Haut- und Lymphknotenveränderungen bis hin zu hohem Fieber und Herzmuskelentzündungen. Opfer von Stichen berichteten zudem von Taubheitsgefühlen, was darauf schließen ließ, dass Auwaldzecken Toxine absonderten.
    Neben der Auwaldzecke würden bestimmt auch andere Zeckenarten in Deutschland eine neue Heimat finden. Vereinzelt waren bereits Braune Hundezecken und aus dem Balkan stammende Laufzecken gesichtet worden. Das Arbeitsgebiet von Dr. Viola de Monti stand nicht in Gefahr, demnächst überflüssig zu werden.
    Darüber machte sich die Mikrobiologin ohnehin keine Sorgen. Als hoch qualifizierte Spezialistin würde sie immer einen Job finden. Probleme bereiteten ihr die Menschen, mit denen sie zu tun hatte. All die gutmeinenden, wohlwollenden, eifersüchtigen und besitzergreifenden Exemplare der Gattung Homo sapiens, die in ihren Lebensraum eindrangen. Wie heute Morgen, in der U-Bahn. Gegen Zecken konnte man sich schützen, gegen Menschen nicht.
    War es pervers, dass sie im Laufe der Zeit eine gewisse Bewunderung für die blutsaugenden Spinnentiere entwickelt hatte? Oder eine professionelle Deformation, so wie Sargschreiner den Geruch von frischen Särgen liebten oder Generäle den Klang von Kanonenfeuer? Viele Menschen sammelten Schmetterlinge, Viola besaß eine Zeckensammlung. Auf einige, seltene Arten aus Südamerika war sie richtiggehend stolz. Abends, bei
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