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Fuchserde

Fuchserde

Titel: Fuchserde
Autoren: Thomas Sautner
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deine Mutter dich über den glitzernden Bach hob.
    Und irgendwann erzählte mir dein Vater zwar stolz, aber dennoch reichlich verunsichert, dass du es warst, der – obwohl noch ein Knirps und kaum einer Silbe mächtig – ihm geholfen hat, den Weg nach Hause zu finden. Dein Vater war damals, mit dir auf den Schultern, gedankenverloren zu tief in den Wald geraten. Gemerkt hatte er das erst, als die Sonne tief am Himmel stand und kaum mehr Licht in den Wald fiel. Du hast wohl seine Aufgeregtheit gespürt. Jedenfalls erzählte er, dass du ihm plötzlich mit deinem ausgestreckten kleinen Arm die Richtung angegeben hast. Anfangs ignorierte er es, dann hielt er es für albern, doch als du immer dann einen kurzen, erbosten Schrei von dir gegeben hast, wenn er deinen Rat nicht befolgte, ging er schließlich so, wie du es ihm angezeigt hast. Wenig später seid ihr an der Waldlichtung angekommen, die sogar dein sesshafter Vater wiedererkannt hat. Seit diesem Ausflug trägst du deinen Namen, mein kleiner, schlauer Fuchs.
     
    Es war kurz nach diesem Erlebnis, als deine Eltern – irritiert und neugierig geworden durch dein wildes Herz und deinen zielsicheren Instinkt – herausfanden, dass in den Adern deiner Mutter ebenfalls jenisches Blut floss. Ihre Herkunft war ihr ebenso verschwiegen worden wie deinem Vater die seine. Nun ja: Du kannst dir sicher vorstellen, mein kleiner, schlauer Fuchs, wer es war, der etwas nachgeholfen hat, um die wahre Abstammung deiner Mutter ans Tageslicht zu bringen. Jedenfalls hab ich dich ab dann in meine Obhut genommen, so wie es von jeher Brauch ist bei uns: Der Älteste unterrichtet den Jüngsten der Sippe. Das trauten sich deine Eltern mir trotz aller sesshaften Vorsicht dann doch nicht zu verwehren. Außerdem: So wie du dich gebärdet hast und wie jede Faser in dir nach deinem Ursprung geschrien hat, da wussten deine Eltern, dass sie dagegen nichts ausrichten können. Schließlich kann ja auch der Wetterfrosch im Gurkenglas nichts gegen Donner und Blitz unternehmen.
     
    Jahre später, mein kleiner Fuchs, konnte der Körper meiner Frida ihr großes, ewig jung schlagendes Herz nicht mehr tragen. In der Nacht bevor sie ging, nahm sie meine zitternde Hand, befreite mich von meiner Angst und gab mir ihre Kraft. Dann sagte sie: »Lois, du weißt, dass wir uns wieder haben werden. Es wird so weit sein, wenn du den kleinen Fuchs das gelehrt haben wirst, was nötig ist. Dann wirst du zu mir kommen. Unsere Seelen werden zusammenfließen wie zwei Tropfen, die im Sonnenlicht dampfend aufgestiegen und als Regen erneut vom Himmel gefallen sind.«
    Von da an, mein kleiner, schlauer Fuchs, von da an hatte ich nur noch eine Aufgabe: dich zu begleiten auf deinem Weg zum Erben unseres jahrhundertealten Wissens. Und ich sage dir, diese Aufgabe hat mich jeden Herzschlag lang mit Freude erfüllt. Weil du mir mit deinem Handeln und deinem Nichthandeln, deinem Reden und deinem Schweigen gezeigt hast, dass du der Auserwählte bist, dass du allein es bist, der das Wissen unserer Ahnen und Urahnen hüten wird.
    Mein kleiner, schlauer Fuchs: Wir beide wissen, dass unser gemeinsamer Weg bald zu Ende sein wird, denn ich habe meine letzte Aufgabe als dein Lehrer erfüllt. Mein Herz wird zur Quelle zurückkehren. Es wird nicht mehr nach dem Warum der Dinge forschen, sondern sich davon ernähren. Du aber bist jung, du wirst suchen und du wirst finden. Erneut wird sich der Kreis schließen und alles wird seinen Lauf nehmen.

16.
    Ich habe dir nun noch einmal die Geschichte unserer Sippe erzählt, mein kleiner, schlauer Fuchs. Ich habe dir das Wissen und die Erfahrung deiner Ahnen weitergegeben. In unseren gemeinsamen Jahren habe ich dich zudem all das gelehrt, was du wissen musst, um du selbst zu sein. Das ist sehr viel, mein kleiner, schlauer Fuchs. Denn nichts ist so schwer im Leben wie der Mensch zu werden, der man ist.
     
    Mein kleiner, schlauer Fuchs: Du hast gelernt, auf dein Herz zu hören und deinem Instinkt zu folgen. Du verstehst es, deine Intelligenz zu nutzen, ihr aber auch zu misstrauen. Du hast mit mir im Wald gelebt mit dem Himmel als Dach, den Pflanzen als Begleiter und den Tieren als Lehrer. Du hast verstanden, dass alle Wesen dieser Erde anders sind und gleich. Du hast erfahren, dass alles eins ist, hast begriffen, dass du selbst nur ein Widerschein bist von längst Vorhandenem. Du fühlst, ein Teil Gottes zu sein, ein Teil des Universums, ungeworden und ewig. Und du begreifst, dass dieses tiefe Wissen
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