Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Fuchserde

Fuchserde

Titel: Fuchserde
Autoren: Thomas Sautner
Vom Netzwerk:
du bist im Lagerspital gestorben. Sonst wäre ich doch nicht ohne dich geflüchtet aus Reichenau, Giorgio.«
     
    Giorgio und Hanna schlugen sich zum nächsten Bauernhof durch. Sie hatten Glück. Die Bauersleute waren gut zu ihnen. Als der Krieg endlich vorbei war, machten sich Giorgio und Hanna auf, Richtung Österreich. Denn Deutschland, die Heimat Hannas, kam als Ziel nicht in Frage. Von ihrer Familie waren alle tot. Um zu überleben, nahmen Giorgio und Hanna auf ihrem langen Weg immer wieder einfache Lohnarbeiten an. Mehrmals mussten sie auch Station machen, weil sie krank waren. Als Giorgio und Hanna schließlich bei der österreichischen Grenze angekommen waren, wurden sie von den Besatzungssoldaten abgewiesen, weil sie keine Papiere hatten. Die waren ihnen im Konzentrationslager abgenommen worden. Fast ein halbes Jahr dauerte es, bis Giorgio und Hanna genügend Bestechungsgeld beisammen hatten, um sich an der Grenze einzukaufen. In Innsbruck suchten sie dann nach Giorgios Verwandten. Sie streiften durch die Gegend, fragten nach ihnen beim Lager Reichenau und gingen zu den Plätzen, an denen die Sippe früher immer ihr Lager aufgeschlagen hatte. Als keine Hoffnung mehr bestand, machten sie sich auf ins Waldviertel. Giorgio erinnerte sich genau, woher die Familie war, die sie in jenem Hitzling getroffen hatten, der der letzte im Paradies gewesen sein sollte. Amaliendorf. Ja, Amaliendorf hieß der Ort, in dem Giorgio seinen großen Cousin Peter finden wollte.
     
    »Wie hast du es geschafft, zu überleben?«, fragte Peter und versuchte es nun mit einem neugierigen Ton in der Stimme. Denn schon als Giorgio noch ein Kind gewesen war und Peter seinen kleinen Cousin auf dem Schoß sitzen hatte lassen, waren ihm auf diese Art am ehesten seine Geheimnisse zu entlocken.
    »Es lag nicht an mir«, sagte Giorgio plötzlich, und sah weiter in die Mitte des Raums. »Weißt du noch, Peter, als wir in der Nacht bevor ich ins Lagerspital gekommen bin zum Großen Geist gebetet haben?«
    »Ja«, sagte Peter rasch.
    »Weißt du auch noch, was du mir damals gesagt hast? Dass wir uns alle wieder im Paradies sehen werden?«
    »Ja, ich kann mich erinnern.«
    »In dieser Nacht ließ mich der Große Geist einen Spalt breit ins Paradies schauen. Weiter durfte ich nicht. Und weißt du warum, Peter? Ich kann es dir sagen. Ich durfte nicht ins Paradies, weil das Paradies für uns Jenische verschlossen ist.« Giorgios Ton wurde kalt und seine Hand krallte sich an die hölzerne Tischplatte. »Da kannst du mir erzählen, was du willst, Peter, und wir können beten, bis uns die Hände abfallen, aber für uns Jenische gibt es kein Paradies!«
    »Und für uns Juden auch nicht«, sagte Hanna wie beiläufig und drückte mit beiden Händen gegen ihren hohlen Rücken.
    »Bist du krank«, fragte Maria und sah in das schmerzgezeichnete Gesicht des jungen Mädchens.
    »Nein, nein, schon in Ordnung«, sagte Hanna. »Ich bin schwanger.«
    Plötzlich sah Giorgio auf, und seine leeren Augen füllten sich zum ersten Mal seit er in die Stube getreten war mit Leben. »Aber für unser Kind«, sagte Giorgio mit ehrlicher Freude und sah in die Runde, »für unser Kind wird es das Paradies geben. Und dafür lohnt es sich zu leben.« Giorgios Gesicht war nun weich und entspannt. Seine verkrampfte Hand hatte sich von der Tischkante gelöst. Zärtlich lag sie nun über der von Hanna.
     
    * * *
     
    Im deutschen Reich bestanden zweiundzwanzig Konzentrationslager. Das größte wurde 1940 von der SS im polnischen Auschwitz errichtet und 1941/42 zu einem Vernichtungslager erweitert. Bis zur Befreiung des Lagers durch sowjetische Truppen am 27. Jänner 1945 wurden etwa drei Millionen Menschen dort ermordet, darunter Juden, Roma, Sinti, Jenische, Slawen, Regimegegner und Homosexuelle. Auschwitz bestand aus drei Hauptlagern mit neununddreißig Außen- und Nebenlagern. Einige davon dienten als Arbeitslager.
     
    * * *
     
    Als Giorgio damals zu uns kam, war er etwa in dem Alter in dem du jetzt bist, mein kleiner Fuchs. Er war schon erwachsen, aber noch kein Mann. All die schrecklichen Dinge, die er hat erleben müssen, haben schon starke Männer, die längst verwurzelt im Leben standen, umknicken lassen wie trockenes Gras.
    Giorgio hingegen hielt dem Druck in seinem Kopf und dem Zittern in seinem Herzen stand – obwohl er sich jeden Moment so fürchtete, wie ein Hund, bevor die Peitsche auf ihn niederfährt; fürchtete, wie der Schwimmer, den im tiefen, uferlosen Wasser
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher