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Fuchserde

Fuchserde

Titel: Fuchserde
Autoren: Thomas Sautner
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aber ich hielt ihn am Ärmel zurück und schrie in die Richtung der Männer: »Ja, unterm Hitler hätte es das nicht gegeben. Aber jetzt gibt’s das wieder!«

14.
    Gut zwei Jahre zogen ins Land und mit ihnen eine Normalität, deren Oberfläche so dünn war, dass sie vom dreimaligen Klopfen an eine hölzerne Tür zerrissen wurde. Peter öffnete. Im Herbstwind stand ein junger Bursche. Seinen schwachen Körper hatte er in Lumpen gehüllt, sein Gesicht war verschmiert und seine Haare standen verfilzt und zerzaust in alle Himmelsrichtungen. An der Hand hielt er ein brünettes Mädchen, in seinem Alter und noch hagerer als er. Peter erschrak, als er in die Augen des Burschen sah. Sie waren ihm ebenso vertraut wie fremd. Der Junge schien ins Leere zu blicken, durch Peter hindurch. Seine Augen waren müde und alt, wie die eines gebrochenen Greises. Als Peter versuchte, tiefer in die Augen des Burschen zu sehen, um eine unmögliche Ahnung zu ergründen, blickte er ins Nichts. Peter überkam ein Schauder. »Hallo Peter«, sagte Giorgio.
     
    Giorgio hatte das Lager Reichenau überlebt. Er war nicht gestorben, nachdem der Lagerarzt den leblosen Körper aus Peters Armen genommen hatte. Giorgio hatte sich entschieden, weiterzuleben. Nachdem sein zittriger Körper dem Befehl des Lebens endlich nachgekommen war, war Giorgio mit dem Umweg über das Lager Bergen-Belsen ins Vernichtungslager Auschwitz deportiert worden.
     
    Peter führte seinen Cousin und dessen Begleiterin in die Stube. Maria saß in der Ecke, dicht beim Ofen. In ihrem Arm wiegte sie ihren Sohn Franzi.
    »Jetzt koch ich euch erst einmal heißes Wasser für ein Bad auf«, sagte Peter und wandte sich dann zu seiner Frau: »Maria! Schau, Giorgio ist gekommen«, sagte er in einem Ton, der Furcht verriet und doch nach Freude hätte klingen sollen. Dann bat er Maria etwas gehetzt: »Richte für Giorgio und seine Freundin bitte was zum Essen her und stell ihnen ein Glas warme Milch auf den Tisch.« Giorgio und das Mädchen standen wortlos in der Stube. »Setzt euch doch«, sagte Peter und rückte zwei Sessel zurecht.
     
    In Auschwitz hatte Giorgio andere Jenische kennengelernt. Sie waren ihm aufgefallen, weil sie miteinander Jenisch sprachen. Es stellte sich heraus, dass sie zur Sippe jener Waldviertler Familie gehörten, die Giorgio und die Seinen einen Sommer lang begleitet hatten.
     
    »Giorgio«, sagte Peter und deutete auf seine Frau, »kannst du dich noch an Maria erinnern? Du weißt schon, damals im Hitzling, bei unserer allerletzten Reise. Maria ist jetzt meine Frau.«
    »Servus Giorgio«, sagte Maria freundlich. »Ich freu mich, dich wieder zu sehen!«
    Giorgio verzog kurz seine Mundwinkel und sein Kinn kippte etwas nach unten. Dann starrte er auf etwas mitten im Raum, etwas, das die anderen nicht sehen konnten.
    Das Mädchen neben Giorgio unterbrach die Stille. »Hanna«, sagte sie. »Ich heiße Hanna.«
     
    Ein paar Wochen nachdem Giorgio mit den Waldviertler Jenischen im Lager Auschwitz bekannt geworden war, hatte einer von ihnen einen KZ-Aufseher mit einem gezielten Fauststoß auf den Kehlkopf getötet. Seine gesamte Sippe war daraufhin am nächsten Tag in die Gaskammern geschickt worden.
    »Giorgio, wie geht es dir?«, fragte Peter und berührte seinen Cousin vorsichtig am Arm. Weil er nicht reagierte, sagte Hanna: »Giorgio redet nicht viel. Aber du brauchst dir keine Sorgen um ihn machen. Er ist soweit gesund.«
     
    Es kam der Tag, an dem wieder einmal Hunderte Insassen des Lagers Auschwitz zu Fuß in eines der Arbeitslager getrieben wurden. Bei diesem Marsch ging im Gedränge zweier Kolonnen plötzlich ein Mädchen neben Giorgio. Er sah sie an und sie sah ihn an. Dann nahmen sie einander wie selbstverständlich bei den Händen. Obwohl für den Arbeitstrupp nur junge und halbwegs kräftige Gefangene ausgewählt wurden, passierte es, dass beim Heimweg manche vor Erschöpfung niederbrachen. Das war ihr Todesurteil. Die Wachen exekutierten sie. Immer wieder versuchten Häftlinge während des Fußmarsches zu flüchten. Die SS-Wachen mähten sie mit ihren Maschinengewehren nieder. Giorgio warnte das Mädchen an seiner Seite nicht vor: Als der Weg einen breiten Bach überquerte, riss Giorgio Hanna mit nach unten in den Graben und drängte sie in die Bach-Unterführung. Die Wachen bemerkten nichts. Und jene Häftlinge, die es gesehen hatten, schwiegen.
     
    »Ich dachte, du bist tot, Giorgio«, flüsterte Peter. Seine Lippen zitterten. »Ich hab geglaubt,
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