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Fuchserde

Fuchserde

Titel: Fuchserde
Autoren: Thomas Sautner
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in Europa Tradition. Schon im 18. Jahrhundert befahl Österreichs Kaiserin Maria Theresia, dass Zigeunern ihre Kindern abgenommen und sesshaften Bürgern und Bauern zur Erziehung übergeben werden sollten. Die Pflegeeltern erhielten Kleidung und Pflegegeld. Überdies war die Ehe unter den Fahrenden verboten. Zigeunermädchen hingegen, die einen Sesshaften niedrigen Standes heirateten, bekamen eine staatliche Aussteuer. Maria Theresias Nachfolger, Joseph IL, erließ zudem ein Regulativ, wonach der Gebrauch der Zigeunersprache bei Strafe von vierundzwanzig Stockhieben untersagt wurde. All diese Maßnahmen hatten ein Ziel: die Zerstörung des ethnischen und kulturellen Erbes der Fahrenden. Ähnlich erging es den Fahrenden auch in anderen Ländern Europas, etwa in Deutschland und in der Schweiz. Auch hier wollte man sich der »Unruhe stiftenden, triebhaften, betrunkenen, hausierenden, den sesshaften Kaufleuten Konkurrenz machenden, sich der Staatsgewalt entziehenden« Fahrenden entledigen.
    Hundertfünfzig Jahre später trieben die Nationalsozialisten die Ausrottung der Fahrenden durch Mord, systematische Zwangssterilisierung und Kindeswegnahme auf einen neuen Höhepunkt. Auch die beiden letztgenannten Maßnahmen fallen in die Kategorie Völkermord, verjähren daher nicht, und: Sie wurden auch lange nach dem Nationalsozialismus noch angewendet. In der Schweiz etwa wurde erst 1973 aufgedeckt, dass die vom Staat politisch unterstützte Stiftung »Pro Juventute« Jenischen ihre Kinder bis in die siebziger Jahre weggenommen hat. Organisiert wurde das von einer Unterorganisation der Stiftung: dem »Hilfswerk für die Kinder der Landstraße«. Ihr Ziel war es, aus »herumziehendem Gesindel« »brave Bürger« zu machen. 619 Fälle von Kindeswegnahmen sind dokumentiert, die Dunkelziffer ist weit höher. Geschwister wurden getrennt, den Eltern kein Besuchsrecht eingeräumt, Kindern wurde erzählt, dass die Eltern tot seien. Die Folge der abrupten Familientrennung war oft eine schwere Traumatisierung bei Mündel und Eltern. Die seelische Verwundung führte häufig zu Alkoholismus, Tablettensucht oder Selbstmord. Die Opfer des Hilfswerks erhielten als späte Geste eine Entschädigung von zwanzigtausend Franken. Zivile Haftungsklagen oder Strafprozesse gegen die Täter und Verantwortlichen wurden nie geführt, die wissenschaftliche Aufarbeitung wurde jahrzehntelang verzögert. Eine erste Etappe erfolgte erst 1998, fünfundzwanzig Jahre nach dem Ende des Hilfswerks.
    Auch in Österreich wurden noch lange nach dem Ende der Nazidiktatur Fahrenden ihre Kinder weggenommen, allerdings nicht zentral gesteuert wie in der Schweiz. Dies ist einer der Gründe, warum bis heute kein einziger Fall an die Öffentlichkeit gelangt ist. Zudem scheuen betroffene Jenische davor zurück, späte Aufklärung einzufordern. Das liegt daran, dass sich viele aufgrund ihrer schrecklichen Erlebnisse auch heute noch nicht als Jenische deklarieren wollen. Denn beinahe allen ist eines geblieben: die Angst.
     
    * * *
     
    Der Zweifel eint die Menschen, mein kleiner, schlauer Fuchs, und die Überzeugung trennt sie. Hüte dich vor jenen Menschen, die ihre Überzeugung vor sich hertragen wie ein Zepter. Denn sie werden nicht zögern, auf andere damit einzuschlagen. Hüte dich vor ihnen, die ihre Überzeugung tragen wie eine Krone, denn sie beengt ihren Geist, und das macht sie unberechenbar und gefährlich. Sie fühlen sich erhaben; erhaben über andere Meinungen, und also über andere Menschen.
    Auf Erden wurden viel mehr Verbrechen im Namen des Guten begangen als im Namen des Bösen, mein kleiner, schlauer Fuchs, und oft mit stolzgeschwellter Brust und einer Träne im Auge, vor lauter Rührung der eigenen, hehren Überzeugung wegen.
     
    Als die Kirche und die Fürsorge sich selbst und dem ganzen Dorf damals vormachten, die kleine Tochter von Hanna und Giorgio zu retten, da verbrannten sie auf grausamste Weise drei Herzensnester. Hanna und Giorgio suchten ihre Tochter im ganzen Land, sie gaben keine Ruhe und versuchten alles Erdenkliche. Aber immer wenn sie glaubten, ihre Tochter gefunden zu haben, wurde Esther in ein anderes Heim gebracht, zu einer anderen Pflegefamilie, an einen anderen geheimen Ort. Es war eine Tortur, die sich über Jahre hinzog und der weder Hanna noch Giorgio gewachsen waren. Giorgio war so verzweifelt und fühlte sich so sinnentleert, dass er mehrmals versuchte, sich das Leben zu nehmen. Hanna betäubte ihre Gefühle mit Alkohol. Manche im
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