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Frostherz

Frostherz

Titel: Frostherz
Autoren: Bettina Broemme
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Waschmittel stieg ihr in die Nase. Anne spürte, wie sich die Tränen in ihr sammelten. Draußen hupte es. Sie schluckte, sprang auf, stieß dabei etwas zu Boden, öffnete aber trotzdem rasch das Fenster.
    »Komme gleich«, rief sie hinunter. Als sie am Bett entlang zurückging, um die Kleider in eine Tüte zu stecken, bemerkte sie, was sie zuvor im Aufstehen vom Nachttisch gefegt hatte.
    Es war ein großformatiges Buch, das ganz neu aussah und das sie bei ihrer Großmutter noch nie gesehen hatte. Auf dem Umschlag war ein Knabenchor abgebildet, in geschwungenen, altmodischen Buchstaben stand darauf: »100 Jahre Cäcilien-Knabenchor – eine Chronik«.
    Anne setzte sich aufs Bett und begann neugierig zu blättern. Was hatte ihre Großmutter mit diesem Chor zu tun? Das Vorwort hatte Annes Musiklehrer Fritz von Derking geschrieben, der den bekannten Knabenchor gemeinsam mit dem Dirigenten Anselm Dürnbach seit gut zehn Jahren leitete. Er freue sich, schrieb er, dass ausgerechnet er an dieser Chronik zum 100. Geburtstag mitarbeiten durfte, und wünsche viel Spaß beim Blättern und Wiedererkennen. Annes Augen flogen über die Zeilen, pickten hier und dort einen Satz auf. Sie wusste, dass der Vater ungeduldig wartete, aber sie konnte das Buch nicht aus der Hand legen. Man habe sich große Mühe gemacht, die vielen Bilder aufzutreiben, schrieb von Derking und er freue sich, wenn alle Familien, die jemals einen Sprössling in den Chor geschickt hatten, nun ein freudiges Wiedererkennen mit der Vergangenheit feiern könnten. Dann pries er die bereits ein Jahrhundert anhaltende und vielfach ausgezeichnete Qualität dieses Knabenchores, der fast schon von Anbeginn seines Entstehens an eine feste Größe in der deutschen Chorlandschaft gewesen sei. Er zählte zahlreiche berühmte Sänger auf, die mit dem Cäcilien-Knabenchor ihre ersten Auftritte gehabt hatten, erinnerte an die vielen Konzertreisen, die es vor allem in den 70er- und 80er-Jahren gegeben hatte, und an die hervorragenden Chorleiter, die das Niveau immer weiter gesteigert hatten, sodass man sich nicht schämen müsse, den Cäcilien-Knabenchor in einem Atemzug mit den Regensburger Domspatzen oder den Wiener Sängerknaben zu nennen.
    Irritiert ließ Anne das Buch sinken. Wer aus ihrer Familie hatte wohl in diesem Chor gesungen? Ihr Vater etwa? Oder gar schon ihr Großvater? Nie hatte irgendjemand erwähnt, dass ein männliches Mitglied der Familie in diesem renommierten Chor gesungen hätte. Sie blätterte weiter durch das Buch. Sah schwarz-weiße Fotos von Jungen in Matrosenanzügen und militärisch anmutender Kleidung, ernst blickend unter ihren weißen Mützen. Später wurden die Bilder farbig, die Haare länger, die Kleidung bunter, die Posen lässiger. Immer waren es Buben zwischen vielleicht acht und 14 Jahren, die ihr entgegensahen. Manchmal waren sogar berühmte Gebäude aus aller Welt hinter dem Chor zu erkennen: der Eiffelturm, der Tower, die Golden-Gate-Brücke und auf einem der jüngsten der »Burj Dubai«, der höchste Turm der Welt in Dubai. Sie konnte sich gut erinnern, wie von Derking sie mit seinen ausholenden Berichten von dieser Reise wochenlang gequält und die Proben des Schulchores dabei vernachlässigt hatte. Natürlich schnitt kein Land so gut wie sein geliebtes Bayern ab, aber man hörte dennoch viel Euphorie aus seinen Worten heraus. Gerade als sie das Buch zurück auf den Nachttisch legte, hörte sie Johann die Treppen heraufpoltern.
    »Anne!«, schrie er. »Wo bleibst du?«
    Mit hochrotem Kopf erschien er in der Tür. Anne griff rasch nach der Kleidertüte.
    »Bin schon fertig.«
    »Was dauert das denn so lange? Ich dachte schon, du bist die Treppe hinuntergestürzt oder so etwas.«
    »Nein, Papa«, versuchte sie ihn mit besonders sanfter Stimme zu beruhigen.
    »Aber es war nicht so einfach, sich für die richtigen Kleider zu entscheiden. Außerdem musste ich noch nach einer Tüte suchen.« Wie immer fiel ihr das Schwindeln leicht. Und wie immer merkte er nichts davon.
    »Du musst doch verstehen«, seine Stimme war schon viel ruhiger. »Dass ich nach diesem Verlust in einem noch viel größeren Maße um dein Wohlergehen besorgt bin. Du bist der letzte Mensch auf der Welt, den ich habe.« Er zog sie an sich, legte seine Arme um ihre Schultern und strich ihr übers Haar. Wieder und immer wieder.
    »Mein Mädchen«, flüsterte er. »Ich will doch nur, dass dir nichts passiert.«
    »Ich weiß doch, Papa, ich weiß es.«
    Immerhin schien bei der
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