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Frostherz

Frostherz

Titel: Frostherz
Autoren: Bettina Broemme
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gestrichen. Anne war es immer so vorgekommen, als wäre sie stundenlang so gesessen, während ihre Enkelin, als sie noch kleiner war, leise neben ihr auf dem Teppich mit Playmobil-Männchen oder Schlümpfen gespielt hatte. Oder alleine ein Spiel gespielt, das für mindestens zweier Spieler vorgesehen war.
    Ihre Großmutter hatte eine Autorität ausgestrahlt, für die sie niemals die Stimme hatte erheben müssen. Sie war schlank, fast mager gewesen. Immer sehr korrekt gekleidet. Ihre Sprache war knapp und präzise, kein Wort zu viel, das vor allem. Sie hatte ihre Enkelin wohlwollend, aber mit Strenge behandelt. Natürlich gab es zu Weihnachten, Ostern und Geburtstag Geschenke und für ein sehr gutes Zeugnis ein wenig Geld. Aber das waren auch schon die einzigen Zuwendungen. Wenn Anne für ein paar Tage bei ihr bleiben musste, wusste sie von vornherein, worin ihre Aufgabe bestand: nicht aufzufallen und keinen Ärger zu machen. Sie hatte sich immer alle Mühe gegeben und es war ihr auch meist gelungen. Anne hatte manchmal gedacht, sie müsste in dem großen Haus mit seinem herrschaftlichen Empfangszimmer, dem riesigen Wohnzimmer, der fast ebenso großen, altmodischen Küche und ihrem Schlafzimmer, in dem ein erdrückend massiver Schrank neben einem wuchtigen Bett stand, ersticken. Wenn sie am Wochenende dort war, musste sie nach dem Essen auf der Wohnzimmercouch immer einen Mittagsschlaf halten, so wie ihre Großmutter es in ihrem Schlafzimmer tat. Eine Stunde lang konzentrierte sie sich auf das Ticken der großen Standuhr, das vom Esszimmer bis zu ihr hinüber als einziges Geräusch in der Stille zu hören war. Sie schlief nie ein. Die Stunde zog sich wie eingetrockneter Kleber. Glücklicherweise gab es für die Nachmittage den Garten mit den Kirsch- und Apfelbäumen, der mehr lang als breit war und in dessen hinterem Teil sie sich zwischen Holunderbüschen und Flieder ihre eigene Fantasiewelt aufbaute. Sie malte Grundrisse in den sandigen Boden, teilte die Zimmer mit Stöcken und Hölzern ab, dekorierte sie mit abgefallenen Blütenköpfen und flocht, leise summend, skurriles Mobiliar aus Grashalmen und vertrockneten Blättern. Es war das einzige Versteck, das sie je gehabt hatte. Nie kam die Großmutter, um nach ihr zu suchen. Und das war auch das einzige Großmutter-Enkelinnen-Geheimnis. Denn natürlich wäre Johann entsetzt gewesen, hätte er mitbekommen, dass die Großmutter Anne für Stunden sich selbst überließ. Anne ging erst zurück ins Haus, wenn es Zeit fürs Abendessen war oder es zu regnen anfing. Nie wurde mehr gesprochen als nötig. Sie konnte sich nicht erinnern, dass ihre Großmutter sie jemals in den Arm genommen hätte. Doch, einmal: als sie ihr gesagt hatten, dass ihre Mutter gestorben war.
    Anne wusste nicht, warum sie um diese harte Frau hätte trauern sollen. Und warum es ihr Vater nun so vehement tat, verstand sie auch nicht.
    Als sie zu ihm ins Wohnzimmer zurückkehrte, saß er noch genauso unbeweglich da wie zuvor.
    »Papa«, sagte sie sanft. »Hast du schon ein Beerdigungsinstitut angerufen?«
    »Das hat die Frau von der Caritas gemacht, da kommt nachher einer, er hat vorhin angerufen.«
    Anne setzte sich wieder neben ihn aufs Sofa, nahm seine Hand. Dann schwiegen sie beide so lange, bis es an der Tür klingelte.
    Die nächsten Tage bis zur Beerdigung blieb die Kanzlei geschlossen. Ihr Vater saß die meiste Zeit auf dem Sofa und starrte vor sich hin. Nicht einmal an ihre Tabletten erinnerte er sie. Sie war sich nicht sicher, ob er die SMS las, die sie ihm wie üblich schickte, wenn sie in der Schule angekommen war beziehungsweise wenn sie den Heimweg antrat. Sie hatte keine Zeit, großartig darüber nachzudenken, denn nach der Schule hatte sie neben den Hausaufgaben und dem Lernen viel zu tun. Sie hatte sich notiert, was der Bestattungsunternehmer an anfallenden Aufgaben diktiert hatte, und die Liste nach und nach abgearbeitet.
    Die Trauerfeier war zu organisieren, ein Sarg auszusuchen, eine Anzeige aufzugeben. Welches Kleid sollte die Großmutter im Sarg tragen, welcher Blumenschmuck wurde gewünscht, welche Musik sollte gespielt werden? Sie war stolz, all diese Aufgaben zu meistern. Glücklicherweise waren die allermeisten Dinge telefonisch zu erledigen. Ihr Vater war so sehr in seine Trauer versunken, dass ihm alles egal war.
    Beinahe hätte er sie sogar alleine zum Haus der Großmutter fahren lassen. Sie wertete es als gutes Zeichen, dass er sich in letzter Sekunde doch noch umentschied.
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