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Frostherz

Frostherz

Titel: Frostherz
Autoren: Bettina Broemme
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fühle ich mich wieder heimisch in mir. Ohne es zu wollen. Denn alles, was ich tue, dient dazu, diesen Körper zu vergessen, wenn ich ihn denn schon mit mir herumtragen muss, ihn nicht einfach abstreifen kann. Erträglich wird es nur, wenn ich meine kleinen weißen oder flüssigen Freunde in meinen Körper einführe, dann spüre ich, wie sie in meine Adern eindringen und das Träge, Lustlose für ein paar Stunden überlagern, wie sie es an den Rand drängen, sodass ich es kaum noch spüre. In diesem Zustand kann ich besonders klar denken.

2. Kapitel
    Am Tag nach der Beerdigung nahm ihr Vater wieder das normale Leben auf. Gemeinsam mit Anne verließ er morgens um 7.20 Uhr das Haus. Um 17.15 Uhr kehrte er aus seiner Steuerkanzlei zurück. Bis 18.00 Uhr kochten sie, immer abwechselnd, einmal Anne, einmal Johann. Einkaufen ging Johann zweimal wöchentlich während seiner Mittagspause in einem benachbarten Bioladen, er legte Wert auf gesunde Nahrung. Um 19.00 Uhr sahen sie gemeinsam die Nachrichten an, anschließend konnte Anne sich in ihr Zimmer zurückziehen oder mit ihm weiter Fernsehen schauen. Bevor sie um 22.00 Uhr zu Bett ging, gab er ihr die Vitaminpräparate. Dann schaltete er die Kameras aus und gegen 22.30 Uhr ging auch er zu Bett. Anne war sich sicher, dass ihr Vater dieses geregelte Leben nicht nur schätzte, sondern brauchte. Zum Überleben brauchte. Und sie brauchte ihn. So viel war klar.
    Doch schon ein paar Tage nach der Beerdigung geschah etwas, was die Koordinaten ihres Lebens durcheinanderwirbelte. Für immer.
    Im Biologieunterricht ging es um Genetik, speziell um Pränataldiagnostik und ähnliche Dinge. Anne fand das Thema sehr spannend und hatte sich im Internet ausgiebigst informiert. Dass sie jetzt mit ihrem Bio-Lehrer Albert Brunner quasi einen Dialog zum Thema Chancen und Gefahren der Molekulargenetik führen konnte, kam bei manchen in der Klasse offensichtlich nicht besonders gut an. Wie so oft. Sie gähnten demonstrativ, einmal flog ihr sogar ein Radiergummi an den Kopf, während sie eine Frage formulierte. Anne war es gewohnt, dass man sie als Streberin betrachtete, wobei sie ihrerseits nicht verstand, warum sich die meisten ihrer Mitschüler für gar kein schulisches Thema mehr zu interessieren schienen. Sie fand es spannend, dass Erkenntnisse über die kleinsten Bauteile des Lebens – die Zellen – große gesellschaftliche Fragen aufwarfen: Was passierte mit den Menschen, mit ihren Werten, wenn man beispielsweise durch Pränatalaldiagnostik frühzeitig feststellen konnte, dass ein Kind mit Behinderungen geboren werden würde? Man konnte so viel darüber nachdenken, ob eine Welt ohne Menschen mit Defekten tatsächlich eine bessere Welt wäre. Ob nicht auch behinderte Menschen die Gesellschaft bereicherten. Oder was wäre gewesen, wenn man bei ihr selbst schon im Embryonalstadium die Veranlagung zu einer Krebserkrankung wie die ihrer Mutter hätte feststellen können? Hätten ihre Eltern sie abgetrieben? Anne fehlte es manchmal, sich mit Gleichaltrigen über solche Themen auseinanderzusetzen. Was man dagegen zu einer Party anzog oder welches alkoholische Getränk am meisten »burnte«, interessierte sie einfach nicht. Und das nicht nur, weil sie sowieso nie zu irgendjemandem eingeladen worden wäre.
    Als Brunner nun ausholte, um zu erklären, dass die Pränataldiagnostik die Entwicklung der Menschen durch rechtzeitige Vorauswahl von gesunden Embryonen erheblich voranbringen werde, hörte Anne am anderen Ende der Tischreihe die Stimme eines Mitschülers immer lauter werden.
    »Diane, ist das nicht wunderbar«, sagte Cornelius und Anne sah, dass er direkt in sein Handy hineinsprach, als sei es ein Diktiergerät. »Wir gehen auf eine Menschheit zu, die frei sein wird von Unsicherheiten, Schädigungen und Schwächen, wo alles endlich ordentlich und kalkulierbar sein wird und man uns nie wieder dem Anblick eines – Entschuldigung – Behinderten aussetzen wird.« Die Ironie in seiner Stimme war so eindeutig, dass Anne sich ein Lachen nicht verkneifen konnte.
    »Was soll das denn, Cornelius?« Brunner war in drei Schritten an dessen Tisch angelangt. »Schalten Sie das Ding aus, Sie wissen, dass ich keine Handys im Unterricht erlaube.«
    »Aber, Herr Brunner, ich bitte Sie!« Cornelius war der einzige Schüler, den Anne kannte, der sich Lehrern gegenüber so verhielt, als sei er einer der Ihren.
    »Ich möchte es doch nicht versäumen, diese Sternstunde des Wissens und der Wissensvermittlung für
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