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Friesisch Roulette

Friesisch Roulette

Titel: Friesisch Roulette
Autoren: Marvin Entholt
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Leser dergestalt in die Handlung zu verstricken, dass man sich auch ohne vorherige Kenntnis der Charaktere schnell heimisch fühlt. Aber auch poetische Beschreibungen gehören zu ihren literarischen Stärken.«
    Wiesbadener Tagblatt

Leseprobe zu Beate Sommer,
SPUR NACH OSTFRIESLAND
:
    Prolog
    Sie hatte es verdient, zu sterben, und dieses Mal würde es
kein Entrinnen geben. Sie war zehn Jahre alt und vom Moment ihrer Geburt an
unerträglich gewesen. Erst das Geplärre, tage- und nächtelang und vollkommen
grundlos. Er war so unendlich müde gewesen damals. Ständig drohten ihm die
Augen zuzufallen. Er hatte sich auf nichts konzentrieren können und war in der
Schule total abgesackt. Dabei hatte er zuvor als hochbegabt gegolten. Das war
seinen Eltern egal gewesen, sie hatten sich darauf berufen, ihm eine normale
Kindheit ermöglichen zu wollen. Eine Ausrede. Denn die unnormale Version hätte
bedeutet, viel unterwegs zu sein: all die Tests, die Wettbewerbe, die
besonderen Angebote. Er hatte sich so darauf gefreut. Zu früh gefreut. Sie
hatten keine Zeit für ihn. Nichts, was er tat, war mehr wichtig gewesen.
    Dann begann sie zu krabbeln, sich an allem, was ihre Patschhände nur
erreichen konnten, hochzuziehen. Und abzuräumen. Alles. Bücher, Teller und
Tassen, Papiere, egal. Sie zerrte jede Schublade heraus, sofern sie nicht
abgeschlossen und der Schlüssel außer Reichweite war. Seltsamerweise landeten
sie immer haarscharf neben ihr. Selbst seine Steinsammlung verursachte nicht
die kleinste Beule. Sie zog an jedem Kabel, bis sie es in Händen hielt, und
knabberte dann am Stecker. Er fragte sich, warum sie nie in die Steckdosen
griff. Obwohl er ihr gesagt hatte, dass sie das auf keinen Fall tun dürfe.
Normalerweise war das die sicherste Methode, zu erreichen, dass sie etwas tat:
Man musste es bloß verbieten.
    Als sie zu sprechen begann, früh, früher als er selbst, wurde sie
noch nervtötender, gab den Papagei, der jedes, wirklich jedes Wort
nachplapperte. Wie süß, hieß es immer, sieh nur, wie sie dich bewundert. Das
stimmte nicht. Ihre wahre Persönlichkeit trat zutage, als sie begriff, was sie
sagte, als sie verstand, was Worte anrichten konnten. Da wurde sie zur gemeinen
Petze. Kein noch so gut gehütetes Geheimnis war vor ihr sicher. Schloss und
Riegel, Verstecke, die er für unauffindbar hielt – sie überwand jedes
Hindernis. Sie spionierte ihm nach, ohne dass er sie je dabei erwischt hätte.
Und selbst seine Gedanken schienen wie ein offenes Buch für sie. Wenn sie
wenigstens die Klappe gehalten hätte, aber nein, sie ließ den Rest der Welt an
ihren Erkenntnissen brühwarm teilhaben.
    Er hatte sich nicht vorstellen können, dass es noch schlimmer kommen
konnte. Nämlich als sie aufhörte, über ihn zu sprechen. Und anfing, ihn zu
erpressen. Und jetzt war Schluss damit.
    Er verließ sein Zimmer wie ein ganz normaler Mensch, nicht
verstohlen und möglichst leise, denn das hatte nie geholfen. Sie fragte nicht, wo
er hinwollte, aber er hörte ihre Zimmertür leise knarren und wusste, es würde
funktionieren. Er lief die Treppe hinunter, stieg in seine Stiefel und zog den
Parka an, die Handschuhe, warf sich die zusammengebundenen Schlittschuhe über
die Schulter, dass die Kufen knallten, um nur ja keine Zweifel aufkommen zu
lassen, wohin er wollte. Sie zog, deutlich hörbar, scharf den Atem ein. Das war
nicht der Wind, er war sich sicher.
    Der kleine See war nicht weit entfernt. Die Umzäunung hatte er schon
vor Tagen durchtrennt, von Weitem nicht sichtbar. Er bog die Enden auseinander
und kroch durch die Öffnung. Hockte sich hin und zog die Schlittschuhe an.
Betrat das Eis und begann zu laufen, ein Kreis, eine Acht, rückwärts, vorwärts,
eine langsame Pirouette. Er hatte eigens für diesen Moment geübt, es sollte
vergnüglich wirken und unwiderstehlich.
    Â»Da ist ein Loch im Zaun«, sagte sie.
    Â»Natürlich.«
    Â»Das ist verboten.«
    Â»Aber es macht Spaß«, erklärte er und kreuzte die Beine, fuhr
weiter, während sie sich mit ihren Schlittschuhen abmühte, beachtete sie nicht,
bis sie, um einiges anmutiger als er selbst, ihm hinterherlief, die Wangen rot
vor Aufregung, und ihr blondes Haar flatterte im Wind.
    Er ergriff ihre Hände, und sie tanzten einen wilden, unbeherrschten
Tanz, immer im Kreis herum, dass ihn schwindelte, und sie lachte laut
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