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Friesenkinder

Friesenkinder

Titel: Friesenkinder
Autoren: Sandra Duenschede
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Gefängnis.
    Die junge Schwester grinste ihn an, während er krampfhaft Halt an dem Rollstuhl suchte. Die macht sich doch wohl nicht lustig, schoss es ihm durch den Kopf, doch im selben Moment gab es einen Ruck und der Fahrstuhl hielt an. Das Mädchen grinste immer noch, während Tom tausend Tode starb und Marlene aufgrund einer erneuten Wehe aufschrie.
    »Familie Meissner!« Auf dem Gang der gynäkologischen Abteilung stand Frau Maas, Marlenes Hebamme. »Gehts los?«
    Was für eine dämliche Frage, dachte Tom. Das sieht man ja wohl. Doch trotz alledem war er froh, die leicht rundliche Frau mit dem roten Gesicht zu sehen. Er nickte.
    »Gut, dann gehe ich mal mit Ihrer Frau an den Wehenschreiber und kurz die Herztöne überprüfen. Sie können inzwischen schon Ihre Badehose anziehen, Herr Meissner. Es bleibt doch bei der Wassergeburt, oder?«
    Badehose? An die hatte Tom in der Aufregung gar nicht gedacht. Hatte Marlene ihm eine in die Reisetasche gepackt?
    »Marlene, wo ist denn meine Badehose?«
    »Was weiß ich, wo deine Scheißbadehose ist!«, presste Marlene zwischen zwei Wehen hervor. Sie hatte unerträgliche Schmerzen, beinahe kam es ihr vor, als wenn ihr Unterleib in Stücke gerissen würde, und Tom fragte sie allen Ernstes, wo seine verdammte Badehose war? Hatte er keine anderen Sorgen?
    »Das macht nichts«, beruhigte Frau Maas die Gemüter. »Das kommt öfter vor. Eileen gibt Ihnen eine Leihbadehose.«
    Wieder grinste das junge Mädchen Tom an. »Na, dann wollen wir mal schauen, was wir Modisches für Sie haben.«
    Die dunkle Badehose mit dem kuriosen pinken Muster, die sie aus einem Schrank im Schwesternzimmer hervorkramte, hatte allerdings so überhaupt keinen modischen Chic, aber in diesem Fall musste sie reichen. Tom konnte sich ja schlecht nackt vor den Schwestern zu Marlene in die Badewanne setzen, um sie bei der Geburt zu unterstützen. Mit der Badehose in der Hand, machte er sich auf zur Toilette, um sich umzuziehen.
    Als er zurückkam, war Hektik ausgebrochen. Tom spürte sofort, dass etwas nicht in Ordnung war, denn die Hebamme telefonierte, wild gestikulierend, im Schwesternzimmer, während er Marlene im Kreißsaal schreien hörte. Angst überkam ihn. Eine Geburt barg immer Risiken, das hatten sie gewusst, aber die Vorfreude auf sein Kind hatte ihn diese Gefahr vergessen lassen. Mit wenigen großen Schritten war er bei Marlene. Die junge Schwester hielt ihre Hand. Ihr Grinsen war verschwunden.
    »Die Herztöne sind schlecht. Wir müssen das Baby sofort holen.«

2.
     
    Der Morgen war bereits angebrochen, doch dies war einer dieser zahlreichen dunklen Tage im Norden, an denen es kaum richtig hell wurde. Der Himmel war wolkenverhangen und über den Wiesen waberte ein undurchdringlicher Nebelschleier, der jedes Geräusch verschluckte und die Welt lautlos machte.
    Marten Hansen liebte dieses graue, düstere Wetter. Für ihn war es unverständlich, wie anderen Menschen diese Stimmung derart aufs Gemüt schlagen konnte, dass sie in Depressionen verfielen. Sahen sie denn nicht diese grandiosen Formationen, die feinen Schattierungen von Grau, dieses Kunstwerk der Natur? Er liebte es, durch diese geisterhafte Landschaft zu laufen und nichts als den eigenen Atem zu hören. Die Stille und Einsamkeit waren für ihn eine Wohltat für die Seele. Und noch etwas kam ihm in dieser grauen Jahreszeit entgegen. Niemand sah ihn.
    Er lief zwar nun schon gut ein Jahr, aber sein Übergewicht sah man ihm nach wie vor deutlich an. Und oftmals begegnete er Leuten, die ihn mitleidig angrinsten. Doch er wollte kein Mitleid, er wollte einzig und allein schlank werden. Daher lief er – und besonders gern im Nebel, wenn ihn niemand dabei beobachten konnte. Er bog von der Dorfstraße in die Raiffeisenstraße ab, von wo es hinaus in die Felder ging. An der KZ-Gedenkstelle verlangsamte er sein Tempo. Er fand es unangebracht, hechelnd an dieser Erinnerungsstätte vorbeizurennen, und hielt jeden Morgen einen kurzen Moment inne.
    Ganz begreifen würde er diese grausamen Verbrechen wahrscheinlich niemals, aber er wollte sie auch nicht vergessen. Er hatte das Dokumentenhaus passiert und lief nun in Richtung des ehemaligen Panzergrabens. Dieser Ort erinnerte an die einstige Zwangsarbeit im KZ Ladelund. Tausende Kriegsgefangene und Lagerhäftlinge hatten auf ›Befehl des Führers‹ 1944 die deutsche Nordseeküste von der niederländischen Grenze bis nach Dänemark mit Schanzgräben gesichert. Sieben Tage die Woche à zwölf Stunden
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