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Friedliche Zeiten - Erzählung

Friedliche Zeiten - Erzählung

Titel: Friedliche Zeiten - Erzählung
Autoren: Rotbuch-Verlag
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Sobald die Mutter anfing, ein Volkslied zu singen, fing im Nebenzimmer der Vater an, ein Gegenlied zu pfeifen, weil er empfindlich gegen deutsche Volkslieder war; und wenn die Mutter mit dem Lindenbaum vor dem Tore anfing, pfiff er das Lied von den Bäumen während der Buckower Süßkirschenzeit, es war eins seiner Lieblingslieder, und immer wenn er an die Stelle kam, an der die LPG Zettel an Bäume und Mädchen macht, wo es dann weitergeht: das Volkseigentum wird strengstens bewacht, pfiff er nicht mehr, sondern sang die Zeilen extra laut, mit Text. Wasa sagte, das macht er, damit wir verstehen, warum wir in einer Vorortwohnung ohne Brunnen und Bäume und Heimat leben, bloß wegen dieser Idioten von der LPG , die den Sozialismus nicht zum Laufen bringen, und natürlich auch wegen der Schwiegermutter; aber mit der Zeit dachte ich, er singt es deshalb so laut, damit alle verstehen, daß auch in dieser Vorortwohnung das Volkseigentum strengstens bewacht wird und daß es uns Kindern zuliebe heute noch einmal stillhält, sich deshalb aber noch lange nicht geschlagen gibt, auf Dauer würde es allerdings keine Bewachung dulden, weil ihm das schon an den Idioten von der LPG nicht gepaßt hatte und an der eigenen Schwiegermutter. Wenn die Mutter Volkslieder sang und der Vater die Buckower Süßkirschenzeit pfiff, wußten wir jedenfalls, der Schlüsselkrieg geht demnächst weiter, und wenn in der Schlüsselfrage nicht bald etwas passierte, weil die Mutter schon bei der Heizung nicht nachgab, sondern zäh wie ein alter Bock daran festhielt, zäh wie ein alter Bock, sagte der Vater anerkennend, eigentlich liebevoll, dann würde es vielleicht noch nicht gleich eine Scheidung geben, aber irgendwann einen Großangriff auf die Außentür, auf die Sicherheitskette, von der die Mutter, wenn sie sich nachts immer ängstigte, dachte, daß wir eines Tages einmal vergessen würden, sie vorzulegen, wenn sie zum Einkaufen oder zum Friseur ging.
    Nachts, wenn sie wachlag und wartete, bis der Vater klingelte, machte sie sich immer schwarze Gedanken, und einer von diesen schwarzen Gedanken war, daß sie ganz sicher wußte, sobald die Kette auch nur ein einziges Mal nicht vorlag, würde auf der Stelle mindestens ein Einbrecher kommen, womöglich würde eine ganze Bande Einbrecher kommen, weil sie immer in Banden arbeiten, würde einbrechen, uns Mädchen erst einmal gründlich vergewaltigen, dann ermorden und anschließend auch noch verstümmeln, Flori als einziger könnte vielleicht noch geschickt in den Kleiderschrank schlüpfen und gerettet werden, aber nach getaner Tat würden die Einbrecher uns ausrauben und zu guter Letzt noch den Kühlschrank leerfressen. Wasa und ich glaubten es nicht. Wasa sagte manchmal, aber Mama, jetzt reg dich doch nicht so auf, wie soll so ein Einbrecher wissen, daß wir die Sicherheitskette vergessen haben; tatsächlich haben wir die Sicherheitskette fast immer vergessen und nie vorgelegt, wenn die Mutter wegging, und nie ließ sich ein Einbrecher blicken, aber wir waren eben sorglos und wußten noch nicht, wie schlecht die Welt ist und wie schwarz ein Gedanke sein kann. Wenn jemand klingelte, sollten wir unter keinen Umständen aufmachen, auch nicht mit vorgelegter Sicherheitskette, wegen der Schußwaffen. Manchmal klingelte es, aber nie, wenn wir allein waren, wir waren selten einmal allein, weil die Mutter uns nicht gern allein in der Wohnung hatte, damit wir sie nicht versehentlich anzünden könnten, und dann wären wir verbrannt, wenn sie nach Hause kommt. Wenn es klingelte, waren es entweder Hausierer oder Bettler. Bei Hausierern nahm die Mutter die Sicherheitskette nicht ab, sondern sie kaufte eine Kleinigkeit, die klein genug war, daß sie durch den Spalt paßte, meistens Schnürsenkel oder Postkarten, die von den Künstlern mit den Füßen oder mit dem Mund gemalt waren, sie sagte, es tue ihr leid, wenn Menschen Postkarten mit den Füßen oder dem Mund malen müßten, aber Wasa sagte, sie kauft nur zur Hälfte aus Mitleid, zur anderen Hälfte hat sie Angst, wenn sie nichts kauft, kommt der Hausierer zurück und schlägt uns die Türe ein. Bei Bettlern war es schwieriger als bei Hausierern, weil die Mutter ihnen auf keinen Fall Geld geben wollte, Geld wäre das einzige gewesen, was durch den Spalt hindurchgepaßt hätte, aber sie erklärte uns, daß sie Bettlern kein Geld geben wollte, damit sie es nicht vertrinken. Geben wollte sie ihnen aber doch etwas, ob nun aus Mitleid oder damit sie uns nicht die
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