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French, Tana

French, Tana

Titel: French, Tana
Autoren: Sterbenskalt
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pseudoaltertümlichen
Pastellanstrich, die meisten aber nicht. Nummer 16 sah völlig heruntergekommen
aus: Das Dach fehlte teilweise, neben den Eingangstufen lagen ein Haufen Ziegelsteine
und eine kaputte Schubkarre, und irgendwann in den letzten zwanzig Jahren hatte
jemand die Tür in Brand gesetzt. In Nummer 8 war ein Fenster im ersten Stock erleuchtet, golden und
heimelig und verdammt gefährlich.
    Carmel und
Shay und ich kamen gleich nach der Heirat meiner Eltern zur Welt, im Abstand
von je einem Jahr, genauso, wie man es im Land der verbotenen Kondome erwarten
würde. Kevin folgte fünf Jahre später, sobald meine Eltern wieder zu Atem
gekommen waren, und Jackie kam noch einmal fünf Jahre später, vermutlich die
Frucht einer der kurzen Augenblicke, in denen sie sich nicht spinnefeind waren.
Wir bewohnten den ersten Stock von Nummer 8, vier Zimmer: Mädchenzimmer, Jungenzimmer, Küche,
Wohnzimmer. Das Klo war in einem Verschlag hinten im Garten, und wir wuschen
uns in einer Zinnwanne in der Küche. Mittlerweile haben Ma und Dad alle Räume
für sich allein.
    Ich sehe
Jackie alle paar Wochen, und sie hält mich auf dem Laufenden, wobei sie es für
meinen Geschmack übertreibt. Sie findet, ich müsste jede Kleinigkeit vom Leben
jedes Einzelnen wissen, ich dagegen finde, es reicht, wenn sie mich über Todesfälle
unterrichtet. Es hat daher eine Weile gedauert, bis wir die goldene Mitte
gefunden hatten. Als ich Faithful Place erneut entlangging, wusste ich, dass
Carmel vier Kinder hatte und einen Hintern wie ein Linienbus, Shay über meinen
Eltern wohnte und noch immer in demselben Fahrradladen arbeitete, für den er
die Schule geschmissen hatte, Kevin Flachbildfernseher verkaufte und jeden
Monat eine neue Freundin hatte, Dad irgendwas Unklares mit seinem Rücken
angestellt hatte und Ma nach wie vor Ma war. Jackie, um das Bild abzurunden,
ist Friseurin und lebt mit einem Typen namens Gavin zusammen, den sie, wie sie
sagt, vielleicht irgendwann heiraten wird.
    Falls sie
sich an meine Anweisungen gehalten hatte, was ich bezweifelte, wussten die
anderen so gut wie nichts über mich.
    Die Haustür
war unverschlossen, ebenso wie die Wohnungstür. Kein Mensch lässt heutzutage
in Dublin noch Türen offen. Jackie hatte taktvollerweise dafür gesorgt, dass
ich allein eintreten konnte. Aus dem Wohnzimmer drangen Stimmen; kurze Sätze,
lange Pausen.
    »Hallöchen«,
sagte ich an der Tür.
    Eine Reihe
Tassen senkte sich, Köpfe fuhren herum. Die flinken schwarzen Augen meiner Ma
und fünf hellblaue Paare genau wie meine starrten mich allesamt an.
    »Versteckt
das Heroin«, sagte Shay. Er lehnte am Fenster, die Hände in den Taschen. Er
hatte mich die Straße herunterkommen sehen. »Die Bullen kommen.«
    Der
Vermieter hatte endlich einen Teppichboden verlegen lassen, grün-rosa mit
Blümchenmuster. Das Zimmer roch noch immer nach Toast, Feuchtigkeit und
Möbelpolitur, mit einer schwachen schmutzigen Unternote, die ich nicht benennen
konnte. Auf dem Tisch stand ein Tablett mit Zierdeckchen und Vollkornkeksen.
Mein Dad und Kevin saßen in den Sesseln, meine Ma von Carmel und Jackie
flankiert auf dem Sofa wie eine Kriegsherrin, die stolz zwei prominente Gefangene
präsentiert.
    Meine Ma
ist die klassische Dubliner Mammy: knapp über eins fünfzig, lockengewickelt,
drall und resolut und beseelt von einem endlosen Vorrat an Missbilligung. Die
Begrüßung des verlorenen Sohns lief folgendermaßen ab:
    »Francis«,
sagte Ma. Sie lehnte sich ins Sofa zurück, verschränkte die Arme da, wo ihre
Taille gewesen wäre, und musterte mich von oben bis unten. »Hättest du dir
nicht wenigstens ein anständiges Hemd anziehen können?«
    »Hallo,
Ma«, sagte ich.
    »Mammy,
nicht Ma. Wie du aussiehst. Die Nachbarn müssen denken, ich hab einen
Obdachlosen großgezogen.«
    Irgendwann
mal hatte ich den Armeeparka gegen eine braune Lederjacke eingetauscht, doch
abgesehen davon habe ich noch heute weitgehend denselben Modegeschmack wie damals,
als ich von zu Hause wegging. Wenn ich einen Anzug angehabt hätte, wäre sie mir
damit gekommen, dass ich mich wohl für was Besseres hielt. Meiner Ma kann man
es einfach nicht recht machen. »Jackie hat sich angehört, als wäre es dringend«,
sagte ich. »Hallo, Dad.«
    Dad sah
besser aus, als ich erwartet hatte. Früher war ich derjenige gewesen, der ihm
am ähnlichsten sah - das gleiche braune Haar, die gleichen scharfkantigen Züge
-, aber die Ähnlichkeit war mit der Zeit stark verblasst, was ich gut
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