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Fremden Kind

Fremden Kind

Titel: Fremden Kind
Autoren: A Hollinghurst
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in die Tiefen des im Dunkeln liegenden Gartens erstreckte. Seine Hand zitterte, und er kehrte den anderen den Rücken zu, als er das randvolle Glas anhob und es mit der anderen Hand stützte. Solche Schwäche wäre bei Cecil unvorstellbar, und die Erkenntnis verstärkte Georges Scham unterschwellig nur noch mehr. Er drehte sich um und sah die anderen an, und plötzlich schien es, als würden umgekehrt alle ihn ansehen, als hätten sie sich auf seine Bitte hier eingefunden und warteten auf eine Erklärung. Er hatte nur ein friedliches Abendessen im Kreis der Familie geplant, um sie mit seinem Freund bekannt zu machen. Natürlich hatte er nicht mit der alten Kalbeck gerechnet, die Two Acres anscheinend als ein Hotel betrachtete – es war wirklich impertinent, wie sie sich auf ihre gerissene, scheinheilige Art eine Einladung erschlichen hatte, und seine Mutter hatte ihr auch noch edelmütig eine Stola geliehen und sie in ihre Coty-Parfümwolke gehüllt. Mit Schrecken hörte er sie Cecil jetzt nach den Dolomiten ausfragen, den Kopf zur Seite geneigt; ihre großen braunen Zähne machten ihr Lächeln zugleich linkischer und drohender. Wenige Minuten später schwatzte Cecil munter auf Deutsch mit ihr und adelte dadurch ihre Anwesenheit. Cecil wohnte in Berkshire, es bestand also keine Gefahr, dass Frau Kalbeck jemals kurz vor dem Dinner auf Corley Court auftauchten würde. Cecil sprach ganz gut Deutsch und achtete pedantisch darauf, das langsam näher rückende Satzende nur ja nicht aus dem Auge zu verlieren. Als die Haushälterin das Dinner ankündigte, tat Mrs Kalbeck so, als würde sie die Zusammenkunft zweier verwandter Seelen unliebsam unterbrechen.
    »Wenn Sie sich bitte hierhersetzen würden, Mrs Kalbeck«, sagte Hubert, der vor seinem Stuhl am Kopfende des Tisches stand und dünn lächelnd den anderen bei der Suche nach ihren Plätzen zusah. George, nach dem Glas Champagner etwas durcheinander, lächelte ebenfalls. Ein stechender Schmerz über kam ihn, ein Anflug von Scham und Trauer, dass er keinen Vater mehr hatte und dass er für immer damit zurechtkommen musste. Vielleicht war es auch nur die Erinnerung an Corley mit seinem riesigen, orientalisch anmutenden Speisezimmer, die das Ambiente hier so beengt und stickig er scheinen ließ. In einer sicher unbewussten Geste angesichts der bescheidenen Größenordnungen auf Two Acres hatte sich Cecil beim Betreten des Raums gebückt. Ein Vater wie der von Cecil, eine Kapazität in der Kurzhornrinderzucht, mit Reichtum gesegnet, hätte bei so einem Dinner Ruhe ausgestrahlt. Er hatte einen stattlichen Schnurrbart, die Enden pinselartig aufwärtsgezwirbelt. Hubert war zweiundzwanzig, hatte einen schlaffen rötlichen Schnauzer und fuhr täglich mit dem Zug zur Arbeit in ein Büro. Das hatte der Vater auch gemacht, und George versuchte, sich ihn auf Huberts Platz vorzustellen, zehn Jahre älter als beim letzten Mal, da er ihn gesehen hatte; doch das Bild verschwamm, wie jede häufig abgerufene Erinnerung, und der Blick aus den blassblauen Augen verlor sich zwischen den Blumen und Kerzen, mit denen der Tisch vollgestellt war.
    Dennoch, seine Mutter war sehr hübsch, sogar eine echte Schönheit, verglichen mit Lady Valance, dem »General«, wie Cecil und sein Bruder sie nannten, manchmal auch den »Iron Duke«, aufgrund ihrer Ähnlichkeit mit dem Duke of Wellington. Freda trug heute ihre Amethyst-Ohrringe, und ihr rotblondes Haar schimmerte wie ihr Weinglas im Kerzenschein. Der General war selbstverständlich strikte Abstinenzlerin, und George fragte sich, ob Cecil nicht vielleicht entsetzt darüber war, dass seine Gastgeberin bereits vor dem Essen Alkohol trank. Musste er sich eben daran gewöhnen, dachte er. Sie hatten sich wirklich ins Zeug gelegt für ihn, die Servietten mühevoll zu Lilien gefaltet, zahllose kleine, blank polierte Silberstücke, Schälchen und Döschen mit unbestimmtem Verwendungszweck zwischen die Gläser und Kerzenständer drapiert. George beugte sich vor und schob eine Vase mit weißen Rosen und Efeuranken, die ihm den Blick auf Cecil gegenüber versperrte, zur Seite. Cecil sah ihm lange in die Augen – und ein Ruck ging durch ihn hindurch, zugleich Signal der Vorsicht und Beruhigung. Dann zwinkerte sein Freund ihm zu und wandte sich an Daphne zu seiner Rechten.
    »Habt ihr zu Haus auch eine Puddingkuppeldecke?«, hatte sie ihn gefragt.
    »Auf Corley?«, sagte Cecil. »Ja, doch.« Corley sprach er aus wie andere das Wort »England« oder »The King«,
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