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Fremden Kind

Fremden Kind

Titel: Fremden Kind
Autoren: A Hollinghurst
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vor, in seinem beigen Jackett mit den Grasflecken an den Ellbogen. Er hatte dunkle lebhafte Augen und ein erhitztes Gesicht, als wäre er gerannt. Mr George nannte ihn Cess, und Jonah hauchte den Namen, während er mit der Finger spitze das C nachzeichnete. Dann stand er auf, öffnete die Schnappverschlüsse und ließ den berauschenden Duft des wahren Gentlemans frei: Rasierwasser, Wäschestärke und flüchtigen Ledergeruch.
    Normalerweise kam Jonah nur nach oben, wenn es einen Koffer hinaufzutragen oder ein Bett zu verrücken galt, und im vergangenen Winter, seinem ersten auf Two Acres, hatte er die Kohlen für die Öfen nach oben geschleppt. Er war fünfzehn, klein für sein Alter, doch kräftig; er hackte Holz, machte Besorgungen und fuhr mit Horners Lieferwagen hinunter zum Bahnhof und wieder zurück. Er war Laufbursche, in jeder Hinsicht, doch als Kammerdiener hatte er noch nicht gearbeitet. George und Hubert schienen durchaus in der Lage, sich allein an- und auszukleiden, und um die Wäsche kümmerte sich Mustow, Mrs Sawles Hausmädchen. Heute Mor gen nach dem Frühstück jedoch hatte George ihn zu sich ge rufen und ihn gebeten, sich seines Freundes Valance anzu nehmen, dem zu Hause beliebig viele Diener zur Verfügung stünden. Auf Corley Court habe er einen ganz fabelhaften Mann namens Wilkes zum Kammerdiener, der sich auch um George gekümmert habe, als er dort gewesen sei, und ihm gute Ratschläge gegeben habe, ohne aufdringlich zu wirken. Jonah erkundigte sich, was das für Ratschläge gewesen seien, doch George hatte gelacht und gesagt: »Finde einfach heraus, was er braucht. Pack seine Koffer aus, wenn er kommt, und leg ihm den Inhalt zweckmäßig zurecht.« So hatte der Auftrag gelautet, wortreich und schwer fassbar, und den ganzen Tag über war er Jonah durch den Kopf gegangen, zwischen durch von anderen Aufgaben verdrängt worden, um ihn dann in all seinem Schrecken erneut einzuholen.
    Er löste die Riemenschnallen und entnahm mit unsiche rer Hand das eingeschlagene Seidenpapier. Eigentlich hätte er Hilfe gebraucht, doch war er froh, allein zu sein. Den Koffer hatte ein Könner gepackt, vermutlich Wilkes persönlich, und er verlangte jetzt von Jonah ein ebenbürtiges Talent beim Auspacken. Zuerst der Abendanzug mit den beiden Westen, einer schwarzen und einer modischeren; unter einer Lage Seidenpapier drei Frackhemden und eine runde Lederschachtel für die Kragen. Jonah sah sich im Garderobenspiegel, als er die Kleider durchs Zimmer trug, und sein von der Nachttischlampe erzeugter Schatten richtete sich an der Deckenschräge auf. George hatte ihm gesagt, Wilkes habe noch etwas recht Spezielles gemacht, nämlich ihm bei seiner Ankunft das Münzgeld abgenommen und es für ihn gewaschen. Nun fragte sich Jonah, wie er an Cecils Geld herankommen sollte, ohne ihn darum zu bitten oder den Eindruck zu erwecken, als wollte er ihn bestehlen. Vielleicht hatte George auch nur einen Scherz gemacht, überlegte er, denn bei George wusste man zurzeit nie, wie sogar schon Mrs Sawle festgestellt hatte.
    Der andere Koffer enthielt Kricket- und Badebekleidung und eine Anzahl farbiger Hemden, die Jonah sehr ungewöhn lich fand. Er legte sie in gleichmäßigen Abständen in die freien Schrankfächer, als wollte er das Schaufenster eines Textilgeschäfts dekorieren. Dann kam die Unterwäsche, fein wie für eine Dame, die Schlüpfer elfenbeinfarben und leicht abgewetzt; die Baumwolle verfing sich an seinem rauen Daumen, und er strich sie wieder glatt. Er lauschte auf die Tonlage der Gespräche unten, nutzte dann die einmalige Gelegenheit, um ein Paar auseinanderzufalten und es vor sein rundes Gesicht zu halten, sodass das Licht gedämpft hindurchschimmerte. Unter seiner Angst pulsierte die Erregung und trieb ihm das Blut in den Kopf.
    Der schwere Kofferdeckel offenbarte auf der Innenseite zwei mit Druckknöpfen verschließbare breite Taschen, in denen Bücher und Papiere verstaut waren. Jonah entnahm sie schon mit etwas mehr Selbstvertrauen; von George wusste er, dass sein Gast Schriftsteller war. Er selbst konnte sehr schön schreiben, und, wenn man ihm Zeit ließ, auch fast alles lesen. Die Handschrift in dem ersten Buch, das Jonah aufschlug, war sehr schlecht und strebte schräg nach oben, wobei die G und Y sich in den Linien verhedderten. Dies war offenbar ein Tagebuch. Ein anderes Buch, an den Ecken abgegriffen wie das Kassenbuch in der Küche, enthielt Zeilen, die wohl Gedichte sein mussten. »O lächle mir nicht,
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