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Fremden Kind

Fremden Kind

Titel: Fremden Kind
Autoren: A Hollinghurst
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deprimierender als der Gedanke an eine echte Kommunikation mit den Toten. Rob traf sich mit seinen toten Freunden in geistreichen und ergreifenden Träumen, in denen sie ganz und gar nicht wie diese sprechenden Automaten aussahen. »Los geht’s«, sagte Raymond, klickte auf volle Bildschirmgröße und drehte die Lautstärke auf. Lord Tennysons auffälliger Kopf und seine Schultern füllten den Rahmen – hohle Wangen, hohe Stirn, wirre, fettige Haare, wuchernder dunkler Bart mit viel Grau. Der Bart immerhin war ein Segen, da er den Mund des Dichters vollkommen verdeckte und jegliche makabre Bearbeitung der Lippen unmöglich machte. Raymond klickte den Play-Button an, und begleitet von einem starken Rauschen und dem galoppierenden Klopfen der Zylinderwalze setzte das entschlossene Tremolo des großen Dichters zu einem Galopp durch seine Versdichtung »Komm in den Garten, Maud« an. Rob hatte diese bekannte Aufnahme immer schon unheimlich gefunden – er empfand sie jedes Mal komisch, anrührend und furchteinflößend zugleich. Er sah, dass Raymond ihn beobachtete, und lächelte dünn, als wollte er sich seinen Kommentar für später aufheben. Der Bart des Dichters bebte, ein wildes Tier im Dickicht, während das berühmte Gesicht wiederholt malmende und kauende Bewegungen machte. Rob spürte den sonderbar prüfenden Blick in den Augen des älteren Tennyson, die beinahe aggressive Ängstlichkeit, mit der er sich entschieden und direkt gegen die Schande, die man seinen unteren Gesichtsregionen antat, verwahrte. Der Film kam zu einem abrupten Ende, und Raymonds Hinweis auf das Copyright erschien über Tennysons erstarrtem Gesicht.
    »Unglaublich«, sagte Rob. »Wir hören einen Mann ein Gedicht vortragen, das er vor hundertfünfzig Jahren geschrieben hat.«
    »Ja«, sagte Raymond, aber ihm war klar, dass das wohl eher eine Ausflucht war.
    Rob trat zur Seite. »Ältere Aufnahmen gibt es wohl nicht, oder?«, sagte er und klammerte sich sogleich an diesen beruhigenden Gedanken. »Das müssen die frühesten Tonaufzeichnungen von einem Dichter sein.«
    »Streng genommen, ja, aber natürlich kann man jede Stimme fälschen, wenn man will«, sagte Raymond und sah Rob mit dem für sein Alter seltsam anmutenden Blick eines Teenagers an, der sein Glück herausforderte.
    »Um Gottes willen«, sagte Rob.
    »Ja, das wäre vielleicht doch ein bisschen geschmacklos.« Raymond verbarg seine wahre Meinung hinter einem abrupten Themawechsel. »Was kann ich für dich tun, Rob?«
    Rob sah ihn fragend an. »Hast du nicht gesagt, du hättest was für mich …?«
    »Ach ja, richtig.« Raymond drehte sich auf seinem Stuhl und sah sich zerstreut im Büro um – ein provozierendes Hinauszögern, um seine Aufregung zu verbergen. Er harkte sich den Bart, während sein Blick die Regale entlangging. »Ich dachte, das könnte was für dich sein … Wenn ich es nur wiederfinden würde … Ach, jetzt fällt mir ein, dass ich es in meine Giftschublade getan habe.« Er beugte sich weit vor und zog die unterste Schublade eines Aktenschranks auf. In seiner Giftschublade bewahrte er alles auf, was die Schuljungen von Harrow auf ihren gelegentlichen Streifzügen durch die hinteren Räume des Geschäfts nicht zu sehen bekommen sollten. Haushaltsauflösungen förderten manchmal Geheimverstecke mit alten Pornoheftchen oder sogar Muscle Mags zutage, die heute schon wieder Sammlerstücke darstellten. Raymond interessierte nur die Gewinnspanne, alte Ausgaben von Penthouse bewertete er mit der gleichen stoischen Abgeklärtheit wie alte Physique-Pictorial -Hefte. Jetzt holte er ein dickes, in rotes Leder gebundenes Quartheft hervor, auf den ersten Blick ein Tagebuch oder eine Kladde, allerdings mit rundem Rücken, damit es flach aufliegen konnte. Er wandte sich wieder zum Schreibtisch und wog das Buch in beiden Händen, als wollte er es ihm nicht ohne Warnung und nur unter bestimmten Voraussetzungen übergeben. »Was weißt du über einen gewissen Harry Hewitt?«
    »Absolut nichts.« Rob sah, dass das Buch eine Schnalle hatte, vielleicht war es also ein verschließbares Tagebuch, und auf die Vorderseite geprägt, von Raymonds Daumen halb verdeckt, ein goldenes H.
    »Ganz interessanter Mensch«, sagte Raymond. »Starb in den Sechzigern. Geschäftsmann, Kunstsammler, hat einiges dem Viktoria-und-Albert-Museum vermacht. Klingelt es immer noch nicht?« Rob schüttelte gehorsam den Kopf. »Hat ein paar Häuser weiter gewohnt, Harrow Weald. In einem ziemlich großen
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