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Fremden Kind

Fremden Kind

Titel: Fremden Kind
Autoren: A Hollinghurst
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Kundschaft präsentiert wurde, eine Gipsbüste von Beethoven oder eine Etagere aus echtem Glas. Hector Chadwick persönlich hatte Rob nie zu Gesicht bekommen, hatte immer nur mit Raymond zu tun, wenn er in der Gegend war oder wenn Raymond ihm Bescheid gab, dass er etwas für ihn habe. Neben den Lastwagenladungen nahezu unverkäuflicher Bücher, die ihren Weg in das Geschäft fanden, von da aus in die Trödelläden und weiter in die muffigen Secondhand-Basare der Wohltätigkeitsorganisationen in ganz Nordlondon, bargen die alten Häuser in Harrow gelegentlich Schätze.
    Rob stieß die Tür auf, und in einem abgelegenen, nicht einsehbaren Teil des Geschäfts klingelte träge ein Glöckchen, gleich darauf noch mal. Schutzwälle aus alten Möbeln unterteilten den Ausstellungsraum, wie Raymond ihn nannte, und es war nicht zu erkennen, ob überhaupt jemand da war. Natürliches Licht kam kaum durch, stattdessen brannten hier und da auf Schreibtischen und Anrichten elektrische Lampen, die eigentlich zum Verkauf bestimmt waren. Kindliches Unbehagen überschattete ein Gefühl des Geheimnisvollen und der Geborgenheit. An der hinteren Wand stand ein Bü cherregal, in dem Rob manchmal gestöbert hatte, eingerisse ne Umschläge, graubraunes Leinen, obskure »Gelegenheiten«: eine aufflackernde Spannung, die in dem Odeur aus Staub und Verwahrlosung genauso rasch wieder erlosch. Der Geruch der Bücher war wie eine Droge, ein Versprechen auf einen Genuss, doch bereits getrübt von einer Art vorzeitiger Reue. In seinen Träumen erklomm er manchmal solche Regale oder schwebte an ihnen hinauf, wo sich in den stumpfen Farben ihrer Einbände, altgrün, blassgelb und ocker, seltene, bedeutende Ausgaben nie aufgelegter Editionen voreinander verbargen. Unbearbeitete Musterexemplare von Büchern, der Roman von Woolf, von dem nur ein einziges Exemplar gedruckt worden war, die unbekannte Compton-Burnett mit dem immer gleichen, leicht variierenden Titel, Helfer und Verhinderer, Ein Haus und sein Pferd, Freund und Feind . Rob ging umher und rief: »Raymond?«
    »Hallo, Rob!« Das Klappern einer Tastatur war zu hören. »Bin gleich da.« Raymond und sein Computer lebten in einer intensiven Beziehung gegenseitiger Abhängigkeit, als teilten sie sich ein Gehirn, wobei die Maschine Sicherungskopien von Raymonds obskurem und wahllos alles aufnehmendem Gedächtnis machte und es unaufhörlich erweiterte. Raymond war unerschöpflich, auf eine muntere, provozierende Art. Wie sein Leben außerhalb der Grenzen seines Geschäfts aussah, davon hatte Rob keine Ahnung. »Ich habe gerade was Interessantes hochgeladen für dich.«
    »Ach, ja?«
    »Es wird dir gefallen.«
    »Ich bin gespannt.«
    Ein chaotisches Kabuff neben dem Verkaufsraum bildete Raymonds provisorisches Büro. Rob grinste über die Stapel Papiere und staubbesetzten Kabelwindungen hinweg Raymond an, dessen rundes Gesicht vom Bildschirm angestrahlt wurde. Er nickte heftig und hopste dabei in seinem Bürostuhl leicht auf und ab. Sein rotblonder Bart, lang und zerzaust wie der eines Märtyrers, reichte bis zum Hals und verdeckte zur Hälfte den auf seinem T-Shirt gedruckten Slogan seiner Website »Poets Alive! Houndvoice.com«, unter dem ein Bild von e inem ungewöhnlich gut gelaunten W. B. Yeats prangte. Er blickte auf und nickte wieder. »Ich bin gerade mit Tennyson fertig geworden. Willst du mal sehen?«
    Unter Houndvoice postete Raymond gruselige kleine Vi deos von längst verstorbenen Dichtern, denen er auf digital bearbeiteten Fotoporträts Originaltonaufnahmen in den Mund legte. Aus den Kommentaren ging hervor, dass mancher User tatsächlich glaubte, er sehe und höre Alfred Noyes sein langes Poem »The Highwayman« rezitieren, während andere, die sich nicht täuschen ließen, einfach nur von den sich bewegenden Dichtermündern, die an Fischmäuler erinnerten, und den rhythmisch zuckenden Augenbrauen beeindruckt waren.
    »Ja, schon …«, sagte Rob und trat ein, Raymond rückte mit seinem Stuhl nach hinten. »Sie sind ein bisschen gespenstisch, nicht?«
    »Ja«, sagte Raymond sichtlich zufrieden. »Ich kann mir gut vorstellen, dass sich die Leute dabei gruseln.«
    Rob fand die Filme nicht im Entferntesten überzeugend, was sie jedoch umso verstörender machte. Die künstlich auf- und zuklappende Kinnlade und die grotesk sich auflösenden und wieder zusammenfügenden Gesichtszüge verwiesen auf einen anderen Betrug – die manipulierten Fotos früher Séancen, für Rob gruseliger und
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