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Fremde Schwestern: Roman (German Edition)

Fremde Schwestern: Roman (German Edition)

Titel: Fremde Schwestern: Roman (German Edition)
Autoren: Renate Ahrens
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Vielleicht überlegt sie, ob ich zwischendurch weggegangen bin, um die Blume zu kaufen. Vielleicht wird sie zornig, weil sie denkt, ich hätte sie allein gelassen.
    Nein. Merle ist in ihrem Leben so viel allein gewesen. Hat sich gewöhnt an eine Mutter, die nicht wegen ihrer kleinen Tochter darauf verzichtet auszugehen.

    Am Morgen nach Mutters Beerdigung. Ich wollte anfangen, den Nachlass zu ordnen. Aus dem Schlafzimmer kam ein leises Wimmern. Ich öffnete die Tür. Merle lag auf Mutters Bett. Ihre Windel hatte sich gelöst. Es stank nach Kot und Urin. Ich suchte eine frische Windel. Fand keine. Ich wollte sie baden. Nahm sie auf den Arm. Sie fing an zu strampeln. Diese Kraft hätte ich ihr nicht zugetraut. Kein Baby mehr. Wenn sie mir in der Wanne entglitt und untertauchte? Ich hatte noch nie ein Kind gebadet. Lydia würde mir unterstellen, ich wollte ihre Tochter umbringen. Schmutzig, wie sie war, wickelte ich sie in ein frisches Handtuch. Lief mit ihr im Zimmer auf und ab. Wiegte sie hin und her. Streichelte ihr den Rücken. Summte ein Schlaflied. Sie weinte. Hatte sie Hunger? Ich setzte sie auf einen Stuhl. Im Kühlschrank fand ich verschimmelte Käsereste, einen uralten Joghurt, eine angebrochene Milchpackung. Die Milch war noch gut. Wo war Merles Flasche? Ich fand sie unter Mutters Kleiderschrank. Merle schrie, während ich die Milch erwärmte. Würde sie sich beruhigen, wenn sie etwas zu trinken bekam? Oder hatte sie Schmerzen? Ein geplatzter Blinddarm, eine Mittelohrentzündung, ein Zahn, der sich durchs Zahnfleisch bohrte. Wo war Lydia? Was fiel ihr ein, ihre Tochter hier allein zu lassen? Ich prüfte die Temperatur, füllte die Milch in die Flasche, gab sie Merle in beide Hände. Sofort fing sie an zu saugen. In dem Moment wurde die Wohnungstür aufgeschlossen. Merle war so ins Trinken vertieft, dass sie nichts hörte. Lydia kam in die Küche, stürzte auf Merle zu, riss ihr die Flasche aus der Hand. Merle fing an zu brüllen. Was fällt dir ein, ihr die alte Milch zu geben?, schrie Lydia mich an. Die ist noch gut, antwortete ich, ich habe sie probiert. Lydia baute sich vor mir auf. Niemand hat dir erlaubt, Merle anzufassen. Ob sie noch recht bei Verstand sei, brach es aus mir heraus. Ob sie wisse, in was für einem erbärmlichen Zustand ich ihre Tochter gefunden hätte. Dass sie seit Stunden, wenn nicht die ganze Nacht hungrig in ihrem eigenen Dreck gelegen habe. In einer fremden Umgebung. Nur weil ihre Mutter wieder unterwegs gewesen sei, um sich mit einem Lover zu treffen. Es geht dich nichts an, wie ich meine Zeit verbringe!, schrie Lydia. Nein, aber meine Nichte Merle in dieser Verfassung zu sehen, geht mich sehr wohl etwas an. Verwahrlosung nennt man das, falls du es noch nicht wusstest. Wenn ich das Sozialamt benachrichtige und schildere, wie du deine Tochter vernachlässigst, garantiere ich dir, dass es zu einer Überprüfung deiner Lebensumstände kommen wird. Ob du Merle dann behalten kannst, wage ich zu bezweifeln. Bevor ich wusste, wie mir geschah, packte Lydia mich bei den Schultern und presste mich gegen die Wand. Ich warne dich, zischte sie. Wenn du das tust, wirst du es bereuen. Ich versuchte, mich loszureißen, aber Lydia war stärker. Sie starrte auf meine Kehle. Plötzlich bekam ich Angst. Lydia würde es fertigbringen, mir ein Messer in den Bauch zu rammen. Sie hatte schon andere Menschen verletzt. In der neunten Klasse hatte sie einer Mitschülerin das Nasenbein eingeschlagen. Raus!, schrie Lydia und versetzte mir einen solchen Schlag in die Magengrube, dass mir die Luft wegblieb. Ich schwankte durch den Flur, griff nach meiner Tasche, wollte gerade die Tür öffnen, als Merle auf mich zugerannt kam. Franka nicht gehen, nicht gehen! Du hältst die Klappe!, fauchte Lydia und riss Merle zurück. Ich sehe sie vor mir, die kleine Merle, wie sie im Flur stand und mich ungläubig ansah. Das Handtuch war ihr längst heruntergerutscht, die verschwitzten Haare klebten an ihrem Kopf, um ihre Füße herum bildete sich eine Pfütze. Es war nicht richtig zu gehen, und dennoch ging ich. Verzichtete darauf, das Sozialamt anzurufen. Zwei Wochen später wurde die Wohnung verkauft. Lydia verschwand mit Merle und ihrem geerbten Geld in Richtung Südafrika. Ich atmete auf. In den folgenden Monaten packte mich hin und wieder mein schlechtes Gewissen. Ich versuchte mir vorzustellen, wie Lydia und Merle lebten in einem Land, in dem sie noch nie gewesen waren. In den Zeitungen war von Gewalt die Rede, von
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