Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Fremde Schwestern: Roman (German Edition)

Fremde Schwestern: Roman (German Edition)

Titel: Fremde Schwestern: Roman (German Edition)
Autoren: Renate Ahrens
Vom Netzwerk:
zu schildern, sie in Krisen zu stürzen und verändert daraus hervorgehen zu lassen. Wenn es etwas auf der Welt gibt, wofür ich mich uneingeschränkt begeistern kann, dann ist es das Schreiben.
    Merle wirft sich im Schlaf auf die andere Seite. Jetzt wendet sie mir ihr Gesicht zu. Ihre dunklen, lockigen Haare glänzen. Wie Lydias Haare früher geglänzt haben. Dichte, weiche Haare. Ich habe sie stundenlang gebürstet und gekämmt. Zu Zöpfen geflochten und zu Dutts hochgesteckt. Auf Mutters Lockenwickler gerollt und zu Ohrschnecken gedreht. Nur waschen durfte ich sie nicht. Kann ich selbst, sagte Lydia. Konnte sie natürlich nicht.

    Franka, Franka, meine Franka, flüstert Lydia mir ins Ohr. Du darfst nie von mir weggehen, auch nicht, wenn du groß bist. Bestimmt nicht, sage ich. Und wenn du heiratest und Kinder kriegst? Ich denke nach. Wir heiraten zwei Brüder und ziehen ins selbe Haus. Schwörst du’s? Ich schwör’s. Dann gehören wir jetzt für immer zusammen. Und niemand kann uns trennen. Lydia schmiegt sich an mich. Ich halte sie fest in meinen Armen. Kalte Füße schieben sich unter mein Nachthemd. Bald höre ich gleichmäßige Atemzüge. Ich sehe zwei Bäume vor mir. Ihre Stämme sind dicht über dem Boden zusammengewachsen. Ich schlafe ein.

    Meine Kehle wird eng. Ich muss die Zeit nutzen, in der Merle schläft.
    Ich komme über die ersten Abschnitte nicht hinaus.
    Es klingelt. Merle rührt sich nicht.
    Die Sprechanlage ist defekt. Ich drücke auf den Türöffner. Auf Gummisohlen oder barfuß kommt jemand zu mir hinauf. Vielleicht Lydia. Überraschend schnell genesen. Will ihre Tochter abholen. Will für immer nach Asien oder sonst wohin entschwinden.
    Es ist Jan. Er küsst mich. Überreicht mir eine langstielige Rose.
    Stumm schaue ich auf die Blume. Ich käme nie auf den Gedanken, mir eine Rose zu kaufen. Zu üppig, zu luxuriös.
    »Ich habe mir Sorgen gemacht, weil ich nichts gehört habe.«
    »Merle schläft.«
    »Hat sie gesprochen?«
    »Nein.«
    Ich stelle die Rose ins Wasser und suche nach einem Platz für die dünne Glasvase. Im Flur fällt mein Blick in den Spiegel. Mein Gesicht ist sehr blass neben dem Rot der Blüte.
    Leise gehe ich ins Wohnzimmer. Ich zögere, dann stelle ich die Vase neben das Sofa. Merle liegt auf dem Bauch. Ihren Kopf hat sie unter dem Kissen versteckt. Ist sie durch das Klingeln geweckt worden?
    »Ihr habt Spaghetti gegessen«, sagt Jan, als ich in die Küche zurückkomme.
    »Vorher hat Merle gebadet und dabei das Bad unter Wasser gesetzt.«
    »Wäre es nicht einfacher, wenn ihr das Wochenende bei mir verbringt und wir uns zusammen um sie kümmern?«
    »Du weißt, ich bin am liebsten bei mir zu Hause.«
    »Ich glaube, du willst dir nicht einmal von mir helfen lassen. Warum machst du es dir so schwer? In meiner Wohnung wäre die Situation viel entspannter.«
    »Für mich nicht.«
    »Weil es bei mir nicht so aufgeräumt ist?«
    »Nicht so aufgeräumt ist eine ziemliche Untertreibung.«
    »Franka, es geht um das Kind. Das ist wichtiger als alles andere.«
    »Ist es das?«
    »Vor was willst du dich schützen?«
    »Ich habe es gern ordentlich um mich herum. Das verstehst du nicht.«
    Ich mag die Wendung nicht, die das Gespräch genommen hat. Und den kritischen Blick, den Jan mir zuwirft, mag ich auch nicht. »Was ist?«, frage ich.
    »Ich dachte gerade, dass ich die längeren Haare schöner an dir fand. Die kurzen liegen so dicht an deinem Kopf und sehen aus wie ein Helm.«
    »Ich hätte auch lieber große Locken, wenn du das meinst.«
    »Nein. Die längeren sahen weicher aus.«
    »Fehlt nur noch, dass du mir sagst, meine Haare sähen aus wie ein Schutzhelm.«
    »Franka …«
    »Ich brauche keinen Helm. Kurze Haare sind praktischer.«
    »Als du neulich vom Friseur kamst, hast du mich nach meiner Meinung gefragt.«
    »Vielleicht hätte ich sie lieber da gehört.«
    »Ich wollte dich nicht kränken.«
    Wieder entsteht eine Pause.
    »Soll ich die Karten für heute Abend zurückgeben?«, fragt Jan, ohne mich anzusehen.
    »Du freust dich seit Wochen auf das Konzert.«
    »Maurizio Pollini kann ich auch ein andermal hören.«
    »Geh ruhig.«
    »Kinder halten so ein Schweigen nicht lange durch.«
    »Kinder wie Merle vielleicht doch.« Mama sagt, du hast kein Herz.
    Jan nimmt mich in die Arme. Streicht mir über den Kopf. Es gelingt mir, meine Tränen hinunterzuschlucken.

    Jan ist fort. Merle schläft immer noch. Wenn sie aufwacht, wird sie vielleicht die Vase neben ihrem Sofa sehen.
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher