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Fremde Schwestern: Roman (German Edition)

Fremde Schwestern: Roman (German Edition)

Titel: Fremde Schwestern: Roman (German Edition)
Autoren: Renate Ahrens
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ihr Flugticket und eine Halskette, an der Blut klebt. Ich nehme das Portemonnaie heraus, finde darin das Foto von Merle. Es war Lydia so wichtig, das Foto von den Beamten zurückzubekommen.
    »Schläft sie noch?«, fragt Chris.
    Ich nicke.
    »Dann spreche ich ein andermal mit ihr.«
    In dem Moment geht die Tür auf. Merle sieht Chris, sieht die Gegenstände auf dem Tisch und stürzt auf ihn zu.
    »Wo ist Mama? Wo ist Mama?« Sie trommelt mit ihren Fäusten auf ihn ein. »Warum hast du sie nicht mitgebracht?«
    »Merle …«, sagt Chris und nimmt sie in die Arme. »Es tut mir so leid …«
    Sie fängt an zu weinen.
    Behutsam erzählt er ihr, wie Lydia gestorben ist. Merle unterbricht ihn kein einziges Mal.
    Wir schweigen. Merle weint.
    Er streicht ihr über den Kopf. Sie reißt sich von ihm los und rennt in ihr Zimmer.
    Chris steht auf, nimmt seinen Rucksack, verabschiedet sich.
    Ich folge Merle. Sie hat sich unter ihrer Decke verkrochen. Ich lege ihr die Hand auf die Schulter. Sie schüttelt sie ab.
    Plötzlich zittere ich vor Kälte und Erschöpfung. Gehe zurück ins Wohnzimmer, zurück ins Bett.
    Ich betrachte die Kette mit Lydias Blut. Ein einfacher Silberdraht, auf den sie grüne Glasperlen gezogen hat. Schon als Kind hat Lydia solche Ketten getragen. Glasperlen bringen mir Glück, hat sie immer behauptet.
    Lydia ist tot. Der Gedanke hat etwas Schwebendes, so als könnte jederzeit jemand das Gegenteil behaupten.

37.
    I ch habe Jan angerufen. Er ist auf dem Weg zu uns.
    Varanasi. Ich lese noch einmal Lydias Karte. Bakul habe ich leider nicht getroffen.
    Das ist mir vorher nicht aufgefallen. Haben Lydia und Merle in Varanasi gelebt? Bakul wohnte hinter dem Bahnhof, hat Merle damals gesagt. In welcher Stadt? Weiß ich nicht. Delhi? Kann sein. Sie war groß und heiß. Und die Affen saßen auf der Brücke und schnappten den Leuten die Brillen weg.
    Ich gebe bei Google Varanasi ein. Die Stadt gilt als eine der heiligsten Stätten des Hinduismus. Menschen aus aller Welt pilgern nach Varanasi, um im Ganges zu baden. Wer hier stirbt und im Ganges bestattet wird, durchbricht den quälenden Kreislauf aus Tod und Wiedergeburt und erlangt so die endgültige Erlösung. Viele Hindus kommen nur hierher, um zu sterben.
    Lydia war Buddhistin. Vielleicht macht das keinen Unterschied.
    Die endgültige Erlösung.

    Jan nimmt mich in die Arme.
    »Geh zu Merle«, sage ich. »Bei dir wird sie eher Trost finden als bei mir.«
    »Wieso?«
    »Dir konnte sie sagen, dass ihre Mutter sich immer gewünscht hat, in Indien zu sterben.«

    Ich warte. Seit über zwei Stunden ist Jan bei Merle im Zimmer.
    Ich schaue auf die Postkarte. Die bunte Szene am Ufer des Ganges.
    Hat Lydia geahnt, dass sie sterben würde, als sie Merle diese Karte geschickt hat?
    Ein Grab gibt es nicht … Ich habe ihre Asche in den Ganges gestreut.
    Die Postkarte zeigt ihr Grab.

    »Merle schläft«, sagt Jan.
    »Hat sie mit dir gesprochen?«
    Er nickt. »Sie hat mir von Varanasi erzählt.«
    Es stimmt also.
    »Wusstest du, dass Lydia und Merle dort gelebt haben? In einer kleinen Hütte. Und Merle hatte ein Äffchen.«
    »Ich habe es mir eben zusammengereimt«, sage ich und zeige ihm die Postkarte.
    »Dass die Stadt Varanasi heißt, weiß Merle erst, seit sie die Karte bekommen hat. Vielleicht werden wir eines Tages dorthin fahren.«
    Ich starre ihn an. »Nach … Varanasi?«
    »Es würde Merle helfen, am Ufer des Ganges zu stehen.«
    Die Armut, das Elend, Fäkalien im Fluss.
    »Hast du schon mit ihr darüber geredet?«
    »Ja. Ich habe sie gefragt, ob es etwas gibt, was sie sich wünscht. ›Nach Varanasi fahren und in den Fluss gucken.‹«
    »… Ich weiß nicht, ob ich das kann.«
    »Es muss ja nicht sofort sein.«

    Abends im Flur. Merle erzählt Bakul von Lydias Tod. Und von dem großen Fluss in Varanasi. Da wohnt jemand, der so heißt wie er. Wenn sie da mal hinfahren, kommt er mit. Das wird ihm gefallen.

    Zehn Tage später stehen wir zu dritt am Ufer des Ganges. Merle hat ein Bild gemalt. Lydia im Fluss. Sie schläft. Und lächelt dabei.
    Merle rollt das Bild zusammen, steckt es in eine kleine Flasche. Jan korkt sie zu.
    »Tschüs, Mama«, sagt Merle leise und wirft die Flasche ins Wasser.

38.
    M erle ist meistens still. Sie geht zur Schule, spielt Klavier, hält Bakul fest im Arm, wenn sie abends im Bett liegt.
    Erst nach einem Monat verabredet sie sich wieder mit Elisa.
    Mit Jan übt sie neue Stücke auf dem Klavier.
    Sie ist überhaupt am liebsten bei Jan.
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