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Fremde Schwestern: Roman (German Edition)

Fremde Schwestern: Roman (German Edition)

Titel: Fremde Schwestern: Roman (German Edition)
Autoren: Renate Ahrens
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mal aufgeschrieben habe?«, fragt Jan.
    »Nein.«
    »Und wie hast du sie gefunden?«
    »Ich habe so lange gesucht, bis es richtig klang.«
    »War das schwierig?«
    »Nein.«
    »Den meisten Menschen würde das sehr schwerfallen.«
    Merle runzelt die Stirn.
    »Und seit wann spielst du das Stück mit beiden Händen?«, frage ich. »Das habe ich vorher noch nie gehört.«
    »Ich hab’s geübt, als du abends mal weg warst und Nicola auf mich aufgepasst hat.«
    »Als Überraschung?«
    »Hm …«
    Ich gebe ihr einen Kuss auf die Stirn. »Schön war das!«
    »Es sollte auch eine Überraschung für Mama sein.«
    »Sobald sie wieder da ist, spielst du’s ihr vor«, sage ich. »Sie wird staunen, was du in der kurzen Zeit für Fortschritte gemacht hast.«
    Merle presst die Lippen zusammen.
    Wir sind alle eine Weile still.

    Beim Essen schaut Merle auf einmal von ihrem Teller hoch.
    »Jan?«
    »Ja?«
    »Kann ich weiter bei dir Unterricht haben?«
    Ich halte den Atem an. Er wird es ihr abschlagen, weil er keine Zeit hat.
    Aber er schlägt es ihr nicht ab.

36.
    E s klingelt an meiner Wohnungstür. Kurz nach sieben. Das kann nur Lydia sein.
    Schlaftrunken stehe ich auf, greife nach meinem Bademantel. Ist Merle wach geworden? In ihrem Zimmer rührt sich nichts.
    Ich öffne die Tür. Vor mir steht Chris, bleich, übernächtigt.
    »Komm rein«, sage ich leise.
    Er folgt mir ins Wohnzimmer, stellt seinen Rucksack ab, fällt erschöpft in den Sessel.
    »Wo ist Lydia?«
    »Sie … ist vor drei Tagen plötzlich sehr krank geworden.« Er beginnt zu weinen.
    »Ist sie tot?«
    »… Ja.«
    Ich schließe die Augen, denke an Merle. Wie oft habe ich mir vorgestellt, ihr sagen zu müssen, dass ihre Mutter nicht mehr lebt. Monatelang hat Lydias möglicher Tod mich beschäftigt. Und jetzt? Ich sehe Lydia mit uns durch Eppendorf laufen, Merle schwenkt Bakul hin und her. Ich sehe Lydia in der Küche hantieren, es duftet nach Curry. Ich sehe Lydia auf dem Sofa sitzen, vertieft in die Lektüre meines Drehbuchs.
    »Wir waren in Varanasi … hatten uns einen Tempel angesehen … da fing sie an, Blut zu spucken … Es war schrecklich … Alles ging so schnell … Sie ist zusammengebrochen … hat das Bewusstsein verloren … Ich wollte sie nicht allein lassen … habe Leute gebeten, einen Arzt zu holen … Es ist niemand gekommen … Dann war es zu spät … Sie ist verblutet …«
    »Wie konnte sie es bloß riskieren, nach Indien zu reisen?«
    »Sie hatte großes Vertrauen in den Heiler und war so zuversichtlich … Dreimal hat sie ihn aufgesucht … Du hättest ihre Euphorie sehen sollen …«
    Der Heiler ist ein wunderbar weiser, alter Mann, dem ich sofort vertraut habe.
    »… Sie hat das Bewusstsein nicht wiedererlangt … Ich habe sie gehalten, bis ihr Kopf zur Seite gesackt ist … Irgendwann kam ein Arzt zu der Tempelanlage … stellte einen Totenschein aus … Lydias Leiche ist am selben Tag verbrannt worden … Ein Grab gibt es nicht … Ich habe ihre Asche in den Ganges gestreut … so wie es ihr Wunsch war … Ein paar Tage vorher hat sie gesagt, wie schrecklich sie es fände, eine Leiche in einem Sarg unter der Erde zu bestatten … Es sei viel schöner, die Asche eines Menschen in ein Meer oder einen Fluss zu streuen …«
    Chris kann nicht weitersprechen. Ich kann nicht weinen.
    »In den Tagen davor war sie oft müde …«, sagt er schließlich. »Ich habe sie gefragt, ob sie sich hinlegen wollte … Sie meinte, das hätte sie manchmal … Es sei nicht weiter schlimm … Wenn ich geahnt hätte, dass sie so schnell in Lebensgefahr geraten könnte …«
    »Was hast du denn gedacht, in welchem Zustand sie ist?«
    »Ich wusste, dass sie Hepatitis C hatte, als Folge ihrer Drogensucht, und dass sie auf der Warteliste für eine Lebertransplantation stand. Ich war vorher auch unsicher, ob wir fahren sollten. Aber Lydia meinte, sie müsste ein bis anderthalb Jahre auf eine Spenderleber warten. Da könnten wir ruhig für zwei Wochen nach Indien fahren.« Chris sinkt in sich zusammen. »Sie hatte so große Hoffnungen …«
    War da ein Geräusch im Flur?
    »… Am Anfang unserer Reise hat sie mir deine Adresse gegeben … ich sollte zu dir gehen, falls ihr etwas zustößt … Weil du für Merle verantwortlich bist.«
    »Danke, dass du gekommen bist.«
    »Ich habe Lydia geliebt.«
    Chris öffnet seinen Rucksack und zieht eine blaue Plastiktüte hervor. Lydias Pass, der Totenschein, ihre Schlüssel, ihr Portemonnaie,
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