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Fremde Schwestern: Roman (German Edition)

Fremde Schwestern: Roman (German Edition)

Titel: Fremde Schwestern: Roman (German Edition)
Autoren: Renate Ahrens
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vage.«
    Er dreht sich um, schaut mich an. »Vielleicht kalkuliert Lydia die Möglichkeit ein, nicht zurückzukommen.«
    »Sondern?«
    »In Indien zu sterben.«
    »Das wäre ja Wahnsinn!«
    »Wäre es das wirklich?«
    »Natürlich! Jan, wie kannst du …«
    »Hat Lydia nicht, wie jeder Mensch, das Recht, ihren ganz eigenen Weg im Umgang mit ihrer Krankheit zu gehen?«
    »Und den sicheren Tod zu wählen?«
    »Dir mag das weltfremd und naiv vorkommen …«
    »Und in höchstem Maße unvernünftig. Was für Lydia allerdings typisch wäre!«
    Jan schüttelt den Kopf. »Ich glaube, so einfach ist es nicht. Lydia ist sicher in der Hoffnung nach Indien gereist, dort geheilt zu werden, um zu Merle zurückkehren und für sie sorgen zu können.«
    »Aber?«
    »Vielleicht spürt sie einfach, dass sie nicht mehr lange leben wird.«
    »In irgendeinem indischen Ashram wird sie das auch nicht.«
    »Franka, es gibt hier kein Richtig und Falsch. Lydia ist anders als du. Wer garantiert, dass sie eine schwere Operation überleben würde?«
    »Sie hätte wenigstens eine Chance.«
    »Vielleicht weiß sie, dass es dafür zu spät ist.«
    »Was soll dieses esoterische Gerede? So kenne ich dich gar nicht!«
    »Lydia kann mehr loslassen als du. Auch was den Tod angeht.«
    »Loslassen? Wenn ich das schon höre! Sie lässt ihre kleine Tochter hier zurück …«
    »Ja, weil sie weiß, dass du gut für Merle sorgen wirst, falls sie stirbt.«
    »Das kann ich nicht akzeptieren.«
    »Du wirst es vielleicht akzeptieren müssen. Der Tod lässt sich nicht kontrollieren.«

    Ich träume. Lydia zieht mich hinter sich her auf den Eisring. Es ist kalt. Ich kann nicht eislaufen, rufe ich. Natürlich kannst du das!, ruft Lydia zurück. Lauf einfach hinter mir her! Wir haben den Eisring ganz für uns allein. Aber ich habe Angst auf dem Eis!, rufe ich. Du musst nur gleiten!, ruft Lydia und dreht die erste Pirouette. Gleich wird sie stürzen, denke ich. Das habe ich schon erlebt. Oder ich werde stürzen und mir etwas brechen. Nun komm, ruft Lydia. Es wird dir gefallen. Vorsichtig fange ich an zu laufen. Du brauchst Schwung! Viel mehr Schwung!, ruft Lydia. Ich laufe schneller. Sie hat recht. Ich laufe und laufe. Allmählich finde ich meinen Rhythmus. Es geht! Es geht!, rufe ich und schaue mich um. Ich bin ganz allein im Eisring. Lydia!!!, schreie ich.
    »Franka?«
    »Wo bin ich?«
    »Du hast geschrien«, sagt Jan und legt mir die Hand auf die Stirn.
    »Ich … habe schlecht geträumt.«
    »Vielleicht hast du Fieber.«
    »Lydia ist mir im Traum verlorengegangen.«
    Im nächsten Moment erinnere ich mich an gestern. Ich fange an zu weinen. Sehne mich plötzlich nach ihr.
    Jan streicht mir über den Kopf. Ich kann lange nicht aufhören zu weinen.

    Am nächsten Tag will Merle wissen, ob jemand aus dem Krankenhaus angerufen habe. Ich schüttele den Kopf.
    »Du darfst Mama nicht verraten.«
    »Ich sage nicht von mir aus im Krankenhaus Bescheid. Aber wenn sie mich fragen, wo Lydia ist, darf ich nicht lügen.«
    »Vielleicht braucht Mama die neue Leber gar nicht. Wenn der Heiler sie gesund macht.«
    Ich schweige.

    Es ist spät. Ich stehe im Flur. Merle erzählt Bakul von der Reise ihrer Mama nach Indien zu dem großen Heiler. Sie hat sich erschrocken, weil sie auf einmal weg war. Aber Tante Franka hätte die Reise nicht erlaubt. Ihre Mama weiß, was richtig ist. Der große Heiler macht sie gesund. Dann muss sie nicht aufgeschnitten werden.

    Am dritten Tag ruft die Sozialarbeiterin an. Meine Schwester sei nie zu Hause und auch telefonisch nicht zu erreichen. Ob ich wisse, wo sie sich aufhalte? Ich sage, was ich weiß. Wie ahnungslos ich war. Dass ich die Entscheidung meiner Schwester nicht begreifen kann.
    Die Sozialarbeiterin ist weniger überrascht. »Ich hatte ja schon im November Bedenken, weil Ihre Schwester so viel unterwegs war.«
    »Wahrscheinlich hatte sie da bereits den Freund, mit dem sie jetzt nach Indien geflogen ist.«
    »Und der für beide bezahlt?«
    »Ja.«
    »Ich hatte lange den Eindruck, dass sie gute Fortschritte macht. Aber Menschen mit einer Drogenkarriere bringen oft nicht die Disziplin auf, so einen schwierigen Warteprozess durchzustehen. Eines Tages fangen sie an, sich wieder treiben zu lassen.«
    »Es geht ja nicht nur um sie. Sie hat eine kleine Tochter.«
    »Ihre Schwester weiß, dass Merle bei Ihnen gut aufgehoben ist. Insofern hat sie da sicher kein Problem.«

    Das ist auch die Meinung der Ärztin. Sie ruft mich einen Tag später an,
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