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Dunkel ist die Sonne

Dunkel ist die Sonne

Titel: Dunkel ist die Sonne
Autoren: Philip José Farmer
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1
     
    Dunkel war die Sonne; hell der Himmel.
    Unter dem mit toten und lebendigen Sternen, finsteren oder flammenden Gaswolken und Galaxien übersäten Firmament, auf einer Erde, in der die Gebeine von siebenhundertvierundfünfzig Millionen Generationen oder mehr ruhten oder über die der Staub von ebenso vielen wehte, ging Deyv seinem Schicksal entgegen.
    „Such dir einen Gefährten und finde einen Drachen“, lautete ein Sprichwort des Stammes.
    War man Pessimist, so klang es unheilverheißend. War man Optimist, so klang es lohnend. Es gab gute Drachen, und es gab böse. Glaubte Deyv jedenfalls. Er hatte noch nie einen gesehen.
    Deyvs Ansicht hing, wie die der meisten Leute, von den jeweiligen Umständen ab. Im Moment war er verstört und daher pessimistisch.
    Deyv vom Roten Ei verließ den Schildkrötenstamm von dem Haus-das-auf-dem-Kopf-stand. Das Haus, ein Zylinder aus unzerstörbarem Metall mit einem Durchmesser von neunzig Metern, ragte hinter ihm auf. Die rot, grün und weiß gemusterten Mauern neigten sich ein wenig, so daß sich von dem runden Sockel aus, der sich zehn Stockwerke über dem Boden befand, ein ungestörter Blick über das direkt darunterliegende Land bot. Die kegelförmige Spitze steckte zehn Stockwerke tief in der Erde. Einst, so sagten die alten Frauen, hatte sich das Haus gänzlich unter der Erde befunden. Aber die Erosion und zahlreiche Erdbeben hatten es vor zehn Generationen hochgedrückt.
    Zu Deyvs Linken, in der Mitte der Lichtung, stand ein Seeleneierbaum. Der knorrige Stamm war bis in eine Höhe von sechs Metern kahl. Dann kamen die Zweige, die einen auf der Spitze stehenden Kegel bildeten. Die Rinde schimmerte rot, weiß, grün, blau und purpurn, denn sie war so von Quarz durchdrungen, daß sie hart wie Stein wirkte. Von den Zweigen hingen die Früchte herab, die Seeleneier, von denen ein jedes so groß wie Deyvs Faust war. Der Baum war umgeben von einem Kreis aus getrocknetem hellem Schlamm, dessen Durchmesser dreißig Meter betrug, und vier Bogenschützen marschierten außen um den Kreis herum. Oben auf dem Turm nahe dem Fuß des Baumes waren vier Wächter, jeder von ihnen in ständiger Bereitschaft, eine Trommel zu schlagen, falls ein feindlicher Mensch oder ein Raubtier gesichtet würde.
    Hinter Deyv kam der übrige Stamm – Männer, Frauen, Kinder, Hunde und Katzen. Wie es der Brauch wollte, stieß jeder von ihnen aufmunternde Schreie aus – außer einem, der eigens dazu ernannt war, Deyv zu beschimpfen.
    „Ho, Deyv vom Roten Ei! Seht doch, wie man ihn in den Dschungel treiben muß! Geht er etwa tapfer wie unsere heldenmütigen Ahnen oder mutig wie einst sein eigener Vater? Nein! Er zittert beim Gehen, die Knie schlottern ihm, die Eingeweide wollen sich ihm vor Angst entleeren, und sein Seelenei …! Ha! Sein Seelenei! Es verrät die Farbe seiner Seele! Es ist grün, grün vor Angst! Hase! Maus! Marschiere doch wie ein Mann, wie ein Krieger vom Stamme der Schildkröten, und schleiche nicht wie ein Kojote einher!“
    Gurni, der Beschimpfer, amüsierte sich. Außerdem war er dabei, sich für das zu rächen, was einst Deyv hinter ihm hergerufen hatte, als er selbst auf Partnersuche ausgezogen war.
    Deyv sah auf das Seelenei hinunter, das an einer ledernen Schnur um seinen Hals hing. Sein Gesicht fühlte sich warm an, und er merkte, wie sein Körper, außer an den Stellen, die der Lendenschurz verdeckte, rot wurde. Es war wahr. Der durchscheinende Stein – ein blasses Scharlachrot, wenn sein Besitzer in guter Verfassung war – hatte grüne Streifen angenommen. Das Grün pulsierte rasch, als sei es mit seinem hämmernden Herzen verbunden. Was es in gewissem Sinne ja auch war.
    Wie demütigend! Wie peinlich!
    „Höre nicht auf diesen großmäuligen Blasebalg!“ schrie ihm seine Mutter beinahe ins Ohr. „Noch ist kein Mann und keine Frau auf Partnerjagd gegangen, ohne daß etwas Grün dagewesen wäre. Keiner außer dem Helden Keelrow, und das war vor fünf Menschenaltern, und vielleicht ist auch das nur eine Lüge!“
    Argow, der Schamane, ging wiegenden Schrittes neben Deyv her. Er trug einen Kopfschmuck aus langen Federn; Wangen und Hinterbacken waren mit drei vertikalen Streifen in Rot, Weiß und Blau versehen; sein Lendenschurz war mit dem Hakenkreuz bemalt; die Knie waren mit Leder umwickelt, an dem sieben Locken aus Menschenhaar hingen; die eine Hand steckte in einem gewaltigen Schildkrötenschädel und die andere schwang einen Stab, an dem drei leere
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