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Fremde Schwestern: Roman (German Edition)

Fremde Schwestern: Roman (German Edition)

Titel: Fremde Schwestern: Roman (German Edition)
Autoren: Renate Ahrens
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Wochen später ist Lydia wieder verschwunden. Es bricht Mutter jedes Mal das Herz. Nach ein paar Monaten kommt eine Postkarte aus Spanien. Dann folgen Karten aus Ecuador, aus Chile, aus Peru. Mutter reiht sie alle auf der Anrichte auf. Wenn ich sie besuche, sprechen wir nur über Lydia und die zuletzt eingetroffene Karte. Die Abstände werden immer größer. Sie wird nicht mehr zurückkommen, denke ich.
    Ich habe mich getäuscht. Nach fünf Jahren, im November 1995, ist Lydia wieder da.
    Du wirst es nicht glauben!, schreit Mutter ins Telefon. Was?, frage ich. Lydia ist schwanger! Ich schlucke. In welchem Monat? Im vierten.

    »Wann landet Mamas Flugzeug?«, fragt Merle am Morgen des 24. Dezember.
    »Ich weiß es nicht …«
    »Dann warte ich in ihrem Zimmer auf sie.«
    »Wir können in der Wohngruppe und an meiner Haustür Zettel anbringen, dass wir bei Jan sind«, schlage ich vor.
    »Ich will auf Mama warten.«
    »Ich kann zusätzlich noch eine neue Ansage auf meinen Anrufbeantworter sprechen.«
    Merle sieht mich zweifelnd an.
    »Da kann nichts schiefgehen.«
    »Na gut …«
    Um vier fahren wir zu Jan, essen Plätzchen, spielen Spiele. Aber Merle zieht es an den Flügel. Sie kann schon drei kleine Stücke spielen.
    Um sieben haben wir noch nichts von Lydia gehört. Wir beschließen, mit der Bescherung bis nach dem Fondue-Essen zu warten. Merle wird immer stiller. Zweimal läuft sie während des Essens in den Flur, telefoniert mit Judith. Keine Spur von Lydia.
    Halb zehn. Merle wird müde.
    »Wollen wir anfangen?«, frage ich.
    Jan schenkt ihr Noten und CDs mit Klaviermusik. Merle betrachtet sie mit großen Augen. Ich habe ihr ein rotes Fahrrad gekauft, es vorher bei Jan deponiert.
    Für ein paar Minuten vergisst Merle ihre Sorge um Lydia. Immer wieder streicht sie über den Lenker, den Sattel. Sie umarmt mich, küsst mich, flüstert mir ins Ohr, dass sie für uns auch etwas habe.
    Jan bekommt eine zitronengelbe Spanschachtel und ich ein kleines, blaues Holzfass mit weißem Kringelmuster.
    »Da kannst du deine Stifte reinstellen. Dann kullern sie nicht mehr auf dem Schreibtisch rum.«
    »Danke, Merle.«
    »Die Kringel sind etwas schief, weil ich an deinem Fässchen noch geübt habe.«
    Mir schießen Tränen in die Augen. Ich muss mich zusammenreißen. Jans ernster Blick. Lydia kommt nicht mehr.

    Zum Schlafen will Merle nach Hause.
    »Wahrscheinlich hat das Flugzeug Verspätung«, versuche ich sie auf dem Nachhauseweg zu trösten. »Oder es hat Probleme mit dem Ticket gegeben.«
    »Oder sie ist wieder krank«, murmelt Merle.

35.
    B eim Frühstück sitzt Merle mir still gegenüber. Es ist kein verbissenes Schweigen, wie ich es aus anderen Zeiten kenne. Eher ein Nicht-Dasein. Sie löffelt ihr Müsli, hält inne, schaut aus dem Fenster, isst weiter.
    »Möchtest du noch Kakao?«
    »Nein danke …«
    »Orangensaft?«
    »Auch nicht …«
    Das Telefon klingelt. Merle springt auf und rennt ins Wohnzimmer.
    Ich höre sofort die Enttäuschung in ihrer Stimme.
    »… Meine Mama ist noch nicht wieder da … Ich weiß nicht, warum … Muss ich Tante Franka fragen.«
    Sie kommt zu mir in die Küche, will wissen, ob wir für morgen schon was vorhaben. Wenn nicht, würde sie gern Elisa besuchen.
    »Natürlich.«
    »Tante Franka hat nichts dagegen … Aber wenn meine Mama heute wiederkommt, dann geht’s nicht …«

    Ich telefoniere. Mit Jan. Mit Judith. Mit dem Hamburger Flughafen. Es gibt keine Direktflüge von Indien nach Hamburg. Lydia und Chris könnten über Frankfurt, Amsterdam, London oder irgendeine andere Stadt geflogen sein. Ich werde es nicht erfahren.

    Merle liegt mit Bakul im Arm auf ihrem Bett und wartet.
    »Wollen wir zu Jan fahren?«
    Sie nickt.
    »Sollen wir wieder einen Zettel an die Haustür machen?«
    Merle sieht mich an, schüttelt langsam den Kopf.

    Bei Jan setzt sie sich sofort an den Flügel. Sie spielt nicht die drei kleinen Stücke, die sie für ihre Mutter eingeübt hat, sondern Bakuls sehnsüchtige Melodie. Mühelos meistert sie die Akkorde der linken Hand. Hat Jan ihr die beigebracht? Sie hat in den letzten Wochen manchmal Akkorde geübt. Ich habe Jan schon fragen wollen, ob er sie nicht überfordert.

    Wir haben mit dem Kochen begonnen. Lasagne. Den Gänsebraten können wir auch morgen noch essen, meinte Jan. Merle war sofort einverstanden.
    Jetzt steht sie auf einem kleinen Hocker und rührt im Topf mit der Hackfleischsauce.
    »Kannst du die Noten für die Akkorde schon lesen, die ich dir
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