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Freiwild

Freiwild

Titel: Freiwild
Autoren: Anja Belle
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Hirnschale und traf Anne tödlich an der Schläfe. Sie hatte nicht lange gelitten, wie man sagte, und war tot, bevor sie es bemerkt hatte. Es dauerte eine ganze Weile, bis Micha Ralf von Annes leblosem Körper wegzerren konnte. Ralf hatte sich festgekrallt und wollte verhindern, dass sie weggetragen wurde. Er heulte auf, als sie in einen schwarzen Sack gehüllt wurde und der Reißverschluss ihr Gesicht bedeckte. Schließlich bekam er ein Beruhigungsmittel, damit die Sanitäter ihren Dienst tun konnten. Völlig betäubt und benommen nahm Ralf ihren CD Player an sich, konnte aber die Stoptaste nicht drücken. Es kam ihm so vor, als wenn die Musik ein letztes lebendiges Stück Anne wäre, und er brachte es nicht übers Herz, sie auszuschalten. Der Player dudelte die ganze Nacht auf Ralfs Kopfkissen, bis schließlich die Batterien leer waren.
    Ralf lag auf seinem Bett und war, obwohl theoretisch lebendig, innerlich tot. Er starrte an die Decke. Nach all dem Scheiß, den er mit seiner Exfrau erlebt hatte, war er endlich glücklich gewesen. Das erste Mal in seinem Leben hatte er das Gefühl gehabt, gebraucht zu werden und für jemanden da zu sein. Anne hatte sich auf ihn verlassen und ihm vertraut, und er hatte kläglich versagt. Sie war tot, weil er nicht aufgepasst hatte. Es war alles seine Schuld. Er hätte es besser wissen müssen. Besser reagieren. Dem Kerl gleich die Rübe wegknallen anstatt zu diskutieren. War es nicht das, wofür er so lange ausgebildet worden war? Seine Feinde auszuschalten? Warum hatte er nur gezögert? Seine Unentschlossenheit hatte dazu geführt, dass die Liebe seines Lebens jetzt kalt und steif in einem schwarzen Leichensack ruhte.
    Micha versuchte lange verzweifelt, an Ralf heranzukommen. Immer wieder redete er auf seinen besten Freund ein. Er war schon für Ralf dagewesen, als er von seiner Frau verlassen wurde, aber jetzt war er machtlos. Nichts und niemand konnte Ralf dazu bewegen, nicht mehr an die Decke zu starren oder auch nur ein Wort von sich zu geben. Es war unheimlich. Er reagierte auf nichts mehr. Ralf weinte nicht. Er sprach nicht und augenscheinlich ging er seit Tagen nicht mal mehr unter die Dusche oder aufs Klo. Er lag einfach nur da, nur mehr eine Hülle seiner Selbst.
    Schließlich stand Ralf gequält und langsam auf, das Gesicht blass, die Haare wirr und durcheinander, die Augen tief eingefallen. An seiner Uniformjacke klebte noch immer Annes getrocknetes Blut. Er sprach kein Wort . Ral f setzte sich an seinen Schreibtisch und fing an, einen Brief zu schreiben. Dann zerknüllte er das Blatt, warf es in den Papierkorb und saß regungslos da. Stundenlang.
    Plötzlich sprang er entschlossen auf, zog sich aus und legte die verunreinigt e n Kleide r ordentlich auf seinem Bett zusammen . Ganz, wie er es in der Grundausbildung gelernt hatte, in der Größe eines Blatt Papiers. Dann ging er duschen, rasierte sich und zog sich eine frische Uniform an. Er achtete auf den korrekten Sitz aller Details, legte Schützenschnur und Abzeichen an. Zuletzt setzte er sich sein rotes Barett auf. Sein Gesicht zeigte nicht die geringste Regung.
    Nach alldem nahm er seine Pistole auseinander, reinigte sie gründlich und gewissenhaft, dann baute er sie wieder zusammen. Das waren Handgriffe, die ihm zur Routine geworden waren und er erledigte sie ohne weiter darüber nachzudenken.
    Er schob das Magazin in den Schaft. Mit einem satten Klicken rastete es ein. Dann lud er durch, entsicherte die Pistole und steckte sich den Lauf in den Mund. Seine Hand am Abzug zitterte und er schwitzte; gleichzeitig war ihm kalt. So unendlich kalt. Ohne Anne hatte alles keinen Sinn mehr. Er war alleine auf der Welt. Niemand würde ihn noch brauchen, so wie es Anne getan hatte. Er konnte den kalten Stahl an seinem Gaumen spüren und schmeckte das Waffenöl. Der Lauf zitterte und schlug ihm an die Zähne. Es würde nicht lange dauern, und er wäre von seinen Schmerzen erlöst. Entschlossen presste er die Augenlider zu und hielt die Luft an.
    „ Mach das nicht, Ralf.“, sagte eine sanfte und beruhigende Stimme hinter ihm und er setzte die Waffe wieder ab. Annes Stimme.

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Alle Handlungen, Namen und Dienstgrade sind frei erfunden und haben nichts mit den real existierenden Personen gemein.
    Die zitierten Textzeilen stammen aus dem Lied „Who wants to live forever“ von Queen.

    In Gedenken an 101 Soldaten, die während Auslandseinsätzen ums Leben kamen; unter anderem auch durch Suizid. Bis jetzt.
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