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Freikarte fürs Kopfkino

Freikarte fürs Kopfkino

Titel: Freikarte fürs Kopfkino
Autoren: Selim Özdogan
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dürfen. Darüber, dass damit die ganze Serie der Lächerlichkeit preisgegeben wird.
    Man kann das Auto nur sehen, wenn man genau hinguckt. Und so sind die Leute. Sie schauen genau hin. Sie suchen Fehler. Fehler sind wie Berge, man steht auf dem Gipfel seiner eigenen und redet über die der anderen.
    Cenk ist ein ganz normaler Junge. Ich weiß nicht, warum er zu einem Psychologen gehen sollte. Aber ich weiß auch nicht, warum er sich weigert, Deutsch zu sprechen.
    Cenk gewinnt beim Memory gegen mich. Er kann aus den Kügelchen des Neo Cube einen Würfel basteln. Ich kann nichts vor ihm verstecken und er kann besser als ich mit meinem Smartphone umgehen. Cenk lacht nicht über mein Türkisch, er kann meinen Namen aussprechen, er merkt, wenn ich einen schlechten Tag auf der Arbeit hatte. Dann kommt er immer und kuschelt sich an mich, bevor wir anfangen zu spielen.
    Cenk stellt Fragen, die ich nicht immer beantworten kann. Wer hat Oma geboren? Warum wird die Sonne abends rot? Er will wissen, ob in der Geschirrspülmaschine Arme versteckt sind oder wer sonst das Geschirr darin sauber macht. Er möchte wissen, ob Mädchen mit Ohrlöchern geboren werden. Was ein Geruch ist. Wer die Wolken macht und warum sie nie kaputt aussehen. Als er vor meiner Weltkarte stand und ich versucht habe, ihm zu erklären, was er da sieht, wollte er wissen, was denn auf der Rückseite der Welt ist. Er fragt, wie die Bäume im Winter Wind machen, weil sie dann doch gar keine Blätter mehr haben. Und ob Gott eine Brille trägt.
    Die Kollegen stellen mir auch Fragen, ganz andere, auf die ich auch oft nicht zu antworten weiß. Wie es mir denn gefällt in Deutschland und ob es mir nicht zu kalt ist. Zu kalt. Was ich am Wochenende gemacht habe. Ob wir lateinische oder kyrillische Buchstaben haben. Ob ich denn mit dem Zug gekommen bin. Ob wir auch so große Schlaglöcher in den Straßen haben wie in Kasachstan.
    Ob es unter den Sowjets besser war oder jetzt. Ich sage dann nicht, ich bin fünfundzwanzig, woher soll ich das wissen? Ich sage: Die Älteren sagen, dass es früher besser war.
    Die Fragen verraten so viel. Genau wie die Lügen, die man erzählt. Wenn Cenk viele Fragen stellt, freue ich mich. Wenn jemand auf der Arbeit neugierig ist, trinke ich Kaffee und hebe die Schultern.
    Ich könnte auch fragen, aber manchmal glaube ich, sie würden mich dann für dumm halten.
    Am Anfang habe ich gedacht, es gäbe nur hier in Bonn so viele Türken. Esra hat mir dann erzählt, wie ihre Landsleute nach Deutschland gekommen sind. Es ist seltsam, dass wir hier Nachbarn geworden sind. Viele Usbekinnen gehen in die Türkei, unsere Sprachen sind sich ähnlich, sie lernen schnell. Sie arbeiten dort als Haushälterin, als Kellnerin oder irgendwo, wo sie mehr verdienen können in der kurzen Zeit, die man mit einem Touristenvisum hat. Sie kommen zurück und erzählen vom Meer.
    Ich habe auch noch nicht gefragt, warum hier so viele alte Menschen allein sind. Ich sehe sie allein auf der Straße, sie kaufen allein ein, für nur eine Person, sie essen wahrscheinlich auch allein und sie brauchen für jeden Abend eine Serie. Sie leben in ihrem eigenen Land als hätten sie niemanden.
    Der Mund ist eine gute Stelle für Kontakt. Aus ihm kommen die Fragen. Aus ihm kommen die Antworten. Man küsst mit dem Mund. Aber man braucht ihn auch, um Kaffee zu trinken.
    Am Samstag gehe ich mit Cenk in den Park. Wir spielen ein wenig Ball und vergraben ein Fünfcentstück, aus dem soll mal ein Geldbaum wachsen. Dann liegen wir nebeneinander und er spielt mit meinen Haaren. Das macht er sehr gerne, er kann stundenlang mit meinen Haaren spielen. Esra hat kurze Haare.
    Ich will ihn nicht fragen, warum er kein Deutsch spricht. Der Mund ist eine gute Stelle für Kontakt. Während Cenk meine Haare streichelt, schließe ich die Augen und erzähle davon, wie es war, als ich klein war.
    Ich habe es nicht eilig, und wenn ich die richtigen Worte nicht weiß, benutze ich die usbekischen. Ich weiß nicht, ob Cenk mir Wort für Wort zuhört, aber ich weiß, dass er mich versteht.
    Ich erzähle, wie wir in einem usbekischen Viertel gewohnt haben, weil mein Vater Usbeke ist, und wie ich mit den Kindern im Viertel usbekisch geredet habe, aber mit meiner Mutter kasachisch. Dass ich nicht gar nicht mehr weiß, wie ich Russisch gelernt habe. Dass bei uns alle Kinder mindestens zwei Sprachen konnten, dass das normal war. Dass die Menschen hier das als etwas Besonderes ansehen, als hätte man eine dritte
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