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Freikarte fürs Kopfkino

Freikarte fürs Kopfkino

Titel: Freikarte fürs Kopfkino
Autoren: Selim Özdogan
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Hand.
    Dann sage ich nichts mehr. Er auch nicht. Vielleicht hat er doch nicht verstanden, was ich erzählen wollte. Aber dann fragt er: - Und wer hat dir Deutsch beigebracht?
    - Deutsch habe ich auf der Universität gelernt. Nach der Schule. Deutsch war billig. Man brauchte viel Geld, um Arzt zu werden oder Anwalt, aber Deutsch konnte man lernen, das hat nicht so viel gekostet. Meine Eltern waren arm. Und ich sollte sowieso heiraten, also ...
    Heiraten. Auf Türkisch evlenmek. Wenn man es wörtlich übersetzt, bedeutet das: Jemand mit einem Haus werden. Heiraten. Auf Usbekisch turmush qurmoq: Ein Leben aufbauen.
    Der Mund ist, wo die Kontakte entstehen. Damals bei der Baumwollernte haben wir uns nachts heimlich aus der Turnhalle geschlichen, in der wir schliefen. Alle Studenten mussten zur Baumwollernte. Wir haben uns geküsst, nachts unter den Sternen. Heiraten.
    - Aber du hast keinen Mann, sagt Cenk.
    - Hm. Stimmt.
    Ich habe keinen Mann. Odil. Seine Küsse schmeckten, als würden wir tanzen zu den Wellen im Meer. Odil. Vielleicht streichelt jetzt Guzal sein lockiges Haar. Odil. Das war kein Haus. Kein Leben. Das war nur ein Sommer. Ich habe mich alt gefühlt, als er zu Ende ging.
    - Mein Vater hat seine Arbeit verloren, sage ich. Und ich habe Arbeit gefunden. Hier in Deutschland. Weil ich mich mit Walnüssen auskenne und mit Zentralasien. Und weil ich Deutsch kann.
    Ich könnte an dieser Stelle ... Doch ich tue es nicht.
    - Weißt du, sage ich, ich bin nach Deutschland gekommen wie der Vater deines Vaters. Um zu arbeiten.
    Cenk hört auf, mit meinen Haaren zu spielen, seine Lider sind schwer.
    - Ich werde wieder gehen, sage ich. Vielleicht schon bald.
    Cenk reißt die Augen auf und sieht mich an. Ich habe es auf Deutsch gesagt. Und jetzt schweige ich. Als hätte ich ihn verraten. Ich gebe ihm einen Kuss auf die Stirn.
    Ich könnte ihn fragen. Oder ich könnte versuchen, ihn dazu zu verführen, wenigstens mit mir einige Worte deutsch zu sprechen. Vielleicht sollte ich mir Gedanken darüber machen, dass er nächsten Sommer schon in die Schule kommt. Vielleicht sucht sich der Lauf der Dinge auch ein eigenes Bett. Ohne dass ich frage.
    Fragen. Wie die, die ich Odil gestellt habe. Er hat geschwiegen und das war Antwort genug.
    Man kann ein ganzes Leben lang Kaffee trinken und Fragen stellen. Man kann ein ganzes Leben lang sein Bett dort suchen, wo die Arbeit ist. Oder wo das Meer ist. Man kann nicht einfach nur jeden Mittwoch Das prächtige Jahrhundert schauen.
    Ich habe mich alt gefühlt nach jenem Sommer mit Odil, aber in Deutschland fühle ich mich noch älter, viel älter. Vielleicht ist es nicht verwunderlich, dass die Kollegen mich fragen, ob es früher besser war oder jetzt.
    Cenk spricht kein Deutsch. Vielleicht weil er es versteht. Vielleicht weil er nicht in diese Welt möchte. Er ist ein Kind, wer weiß, wie er die Dinge in seinem Kopf verknüpft und wo er seinen Platz sieht. Er ist ein Kind und er ist weder dumm noch unglücklich. Die Kindheit währt nur fünf Tage und es gibt Fragen in ihr, aber keine Fremde. Und keine Sehnsucht, die einen zum Kaffee greifen lässt, keinen Gram und keine schwermütige Nostalgie.
    Die Kindheit, unser Viertel, meine Gefährten, meine Verbündeten, unsere Spiele und Schreie und Odils Locken. Wir kannten es nicht anders. Fortziehen und fremd werden, das war dasselbe Wort, aber wir wussten nicht, was es sagen wollte. Erst unter der Erde werden wir wieder wie Kinder werden, erst wenn wir unter der dunklen Erde liegen, werden unsere Fehler vergessen sein und mit ihnen auch die Sehnsucht.
    Ich fühle mich hier zwar manchmal so, als wäre Erde über mir, aber der Mund lebt noch und es ist egal, was ich mit ihm mache. Niemand merkt es. Ich bin tief im Erdreich, doch die Sehnsucht ist wie Wasser, sie findet immer ihren Weg. Und hält mich am Leben.
    Vielleicht sollte Patrick zu Hause bleiben. Vielleicht sollte ich mit Cenk Deutsch sprechen. Ein-, zweimal die Woche.
    Seine Augen sehen jetzt schon wieder müde aus. Er weiß, dass ich nicht gehen werde. Nicht verschwinden werde wie sein Vater. Er vertraut mir. Warum sollte ich ihm Fragen stellen, deren Antworten andere interessieren?
    Seine Wimpern sind sehr lang und dick und biegen sich nach oben. Er schläft jetzt, das leise Lied seines Atems hat keine Sprache.
    Auch er wird groß werden, auch in ihm wird eine Sehnsucht wachsen, der er vielleicht keinen Namen geben kann, auch er wird heiße Getränke trinken, er wird lügen und belogen
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