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Freikarte fürs Kopfkino

Freikarte fürs Kopfkino

Titel: Freikarte fürs Kopfkino
Autoren: Selim Özdogan
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Schule wichtig sind. Niemand da möchte wissen, wie gut du dich mit den Pflanzen auskennst oder warum du gerne mit dem Fahrrad durch den Wald fährst. Sie wollen nur wissen, wie gut du in die Schule hineinpasst. Das ist ein System. Und wenn du Hausaufgaben gemacht hast, hast du Feierabend, dann bist du raus aus dem System. Du hast frei. Später, wenn du groß bist und Geld ausgibst, das niemandem gehört, dann hast du nicht mehr frei. Nie. Das vergisst man, wenn man viel fern sieht und Bier trinkt und in den Urlaub fährt. Das vergisst man, wenn man glaubt, dass das Geld einem gehört und man es für seine Arbeit bekommt. Dabei bekommt man es nur, damit das System weiterläuft. Du wirst später nicht Geld für deine Arbeit bekommen, sondern du wirst Geld dafür bekommen, wie gut du in das System passt. Du wirst nie mehr richtig frei haben. Du wirst nicht mehr rauskommen.
    Jetzt sah sie nicht so aus, als wären wir Superhelden. Ihre Gesicht wurde aber auch nicht eckig. Jetzt war es rund und traurig.
    - Die Pflanzen, sagte sie, sie wachsen, sie nähren uns, sie kleiden uns, sie schenken uns Momente des Friedens, denn sie wissen, wie es ist, frei zu sein. Wir haben das verlernt. Wir glauben, dass alles Arbeit macht. Sogar der Garten. Dabei ist das nur ein Dienst an den Pflanzen.
    Sie sah mich an.
    - Das verstehst du noch nicht, sagte sie, aber du wirst es verstehen, wenn du größer bist. Und wenn du es verstehst, dann wird es schon zu spät sein.
    - Ist es für dich schon zu spät?
    Sie lachte.
    - Ja, es ist für alle schon zu spät. Wir können nur noch ins Bett gehen. Aber ich habe ja die Gefährten im Garten.
    An diesem Tag schnitten wir einige Pflanzen ab und hängten sie mit dem Kopf nach unten an die Decke des Schrebergartenhäuschens.
    - Damit das Harz in die Spitzen fließen kann, sagte Mama.
    Als wir später tanzten, waren ihre Bewegungen nicht so weich wie sonst. Und ihre Augen glänzten hinterher weniger als sonst Vielleicht ahnte sie etwas.
    Nach diesem Tag sah ich sie lange nicht mehr. Sie hatte gefragt, wann ich am Freitag aus dem System sei, doch sie war nicht gekommen.
    Oma hatte mich gewarnt. Ganz am Anfang schon. Im Frühling.
    - Deine Mutter ist nicht zuverlässig, hatte sie gesagt. Verlass dich nicht auf sie. Eines Tages wird sie einfach wieder verschwinden.
    Sie hatte es noch oft wiederholt, erst nach den Ferien waren ihre Warnungen seltener geworden.
    - Sei nicht überrascht, wenn es passiert, hatte sie gesagt.
    Aber ich war überrascht. Mama kam und kam nicht. Sie war manchmal zu spät gekommen, doch so sehr ich auch wartete, das Auto bog diesmal nicht um die Ecke.
    - Warten ist eine Droge, hatte Mama im Garten mal gesagt, es ist etwas, das die Zeit füllt, mit der du nichts anfangen kannst. Du darfst dein Leben nicht mit Warten verbringen. Warte nicht darauf, dass du später aus dem System kommst. Es macht keine Pause.
    Stundenlang stand ich auf dem Parkplatz. Ich wollte es nicht glauben. Ich dachte, wenn ich nur lange genug da stand und mich nicht bewegte, dann würde sie kommen. Dann würde alles gut werden. Wenn ich nur lange genug nicht weinte, dann würde sie auftauchen. Lachend.
    Als ich nach Hause kam, sah Oma gleich, was passiert war. Sie nahm mich in den Arm, doch Opa schrie uns beide an, das geschähe uns nur Recht.
    Mama ging nicht ans Telefon. Sie kam nicht vorbei. Sie war nicht zu Hause. Sie war verschwunden. Opa fuhr zum Garten. Als er wiederkam, schrie er sehr laut und sehr lange. Vielleicht, weil er meine Mutter liebte. Und mich. Verantwortungslos, hörte ich durch die Wände, verlottert, Rabenmutter, Araberschlampe, Scheiße, Teufelszeug, Haschgesellen, Terroristen. Die ganze Zeit versuchte ich nicht zu weinen, die ganze Zeit hoffte ich, wenn ich nicht weinte, würde alles gut werden.
    Als ich Mutter das nächste Mal sah, war es in einem Raum ohne Fenster. Ihr Gesicht war wieder ganz eckig und ihre Augen waren dunkel, als hätte sie schon lange nicht mehr getanzt. Sie ging in die Knie und umarmte mich.
    - Freu dich, flüsterte sie mir zu, freu dich. Wir hatten einen Garten, du und ich. Und wenn du aus dem System raus warst, hatten wir zusammen frei. Das kann uns keiner nehmen.
    Es hat lange gedauert, bis ich wirklich verstanden habe, wo wir Mutter damals besucht haben. Es hat lange gedauert, bis ich eine Ahnung davon bekam, warum mein Vater sich von ihr angezogen gefühlt haben mochte. Und wieso er so bald nach meiner Geburt verschwunden war. Es hat lange gedauert, bis ich
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