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Franzosenliebchen

Franzosenliebchen

Titel: Franzosenliebchen
Autoren: Jan Zweyer
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sagte der bloß.
»Auge um Auge, Zahn um Zahn. Eine biblische Lösung. Ich
kann Sie verstehen.«
    Treppmann krümmte
langsam den Zeigefinger. Er weinte. Er nahm Wiedemann nur noch
schemenhaft wahr. Plötzlich sah er Agnes vor sich: ihr Lachen
als Kind, wenn er sie umherschleuderte, ihre funkelnden Augen, wenn
sie wütend war, ihre Tränen, wenn sie sich beim Spiel
gestoßen hatte.
    Treppmanns Hände
zitterten immer stärker. Er spürte den Druckpunkt des
Abzugs und bekam Zweifel. Hatte Goldstein nicht recht gehabt mit
seiner Bemerkung? Wurde er nicht auch zum Mörder?
    »Ich kann es
nicht«, murmelte er. »Ich kann es einfach nicht.«
Und dann, lauter und mit festerer Stimme sprach er zu Wiedemann:
»Ich mache mir an dir die Hände nicht schmutzig. Du
wirst deinen Richter noch finden.« Mit diesen Worten legte er
den Armeerevolver auf den Tisch und verließ den
Schuppen.
    Für Sekunden
saß Wiedemann wie gelähmt auf der hölzernen Bank.
Dann griff er zu dem Revolver.
    Wilfried Saborski nahm
überrascht zur Kenntnis, dass Treppmann die Hütte ohne den
Revolver verließ. Er lief zu ihm hin. »Was ist
passiert?«, fragte er.
    »Nichts«,
antwortete Treppmann.
    »Und die
Waffe?«
    Treppmann machte eine
Kopfbewegung zum Schuppen. »Sie ist dort
drin.«
    Saborski zog seine
Luger. »Du hast dem Kerl einen geladenen Revolver
überlassen?«, fragte er entgeistert und machte
Anstalten, in die Hütte zu stürmen.
    Treppmann hielt ihn am
Arm. »Lass. Wir gehen nach Hause«, bat er mit
müder Stimme.
    Einen Moment sah es so
aus, als ob sich Saborski der Bitte des Älteren widersetzen
wollte. Dann aber zuckte er resigniert mit den Schultern und drehte
sich um.
    Sie hatten erst wenige
Meter zurückgelegt, da fiel ein Schuss. »Komm«,
sagte Treppmann leise und zerrte Saborski weiter. »Es ist
vorbei.«

59
    Donnerstag und
Freitag, 15. und 16. März 1923
    Die Landschaft flog an
Peter Goldstein vorbei. Sein Auftrag war ausgeführt, Minute um
Minute entfernte er sich weiter vom Ruhrgebiet.
    Saborski hatte ihn am
Abend zuvor aus seinem muffigen Gefängnis befreit. Goldstein
hatte einen Moment erwogen, Martha vom Selbstmord ihres Bruders zu
unterrichten, sich aber dann doch anders entschieden. Stattdessen
hatte er es vorgezogen, das Angebot der Treppmanns anzunehmen und
die letzte Nacht im Ruhrgebiet in ihrem Haus zu bleiben.
    Obwohl Goldstein
Saborski kaum mehr in die Augen schauen mochte, akzeptierte er
dessen Vorschlag, ihn am nächsten Tag sicher aus dem besetzten
Gebiet heraus nach Haltern zu bringen. Dort konnte er dann in den
Zug steigen.
    Sehr früh am
Morgen holte ihn Saborski bei Treppmanns ab. Bevor sie aufbrachen,
übergab Saborski dem Polizisten die Briefe Wiedemanns zusammen
mit einer unterschriebenen Aussage über die Ereignisse. Die
Kette hatte Saborski Agnes’ Eltern
überlassen.
    Als Goldstein das Haus
der Treppmanns verließ, war ihm, als ob er beobachtet wurde.
War es Martha, die seine Abreise verfolgte? Er drehte sich um und
versuchte, in der Dunkelheit Genaueres zu erkennen. Aber da, wo er
eben noch meinte, die Umrisse eines Menschen wahrgenommen zu haben,
bewegten sich nur die Zweige eines Busches im
Wind.   
    Saborski drängte
zur Eile. Nicht weit von der Teutoburgia-Siedlung wartete ein
Kraftwagen, der einem Schrotthändler gehörte und auch von
diesem gelenkt wurde. Goldstein kletterte auf die Ladefläche
und versteckte sich unter einem Haufen Lumpen.
    Über
Nebenstraßen erreichten sie problemlos den nördlichen
Stadtrand Recklinghausens. Dort stiegen Saborski und Goldstein aus
und schlugen sich zu Fuß durch ein Waldgebiet, das die
provisorische Grenze zwischen dem besetzten Gebiet und dem
Deutschen Reich bildete. Hinter der Grenze stand der Kraftwagen und
nahm die beiden Männer wieder auf.
    Die Verabschiedung am
Halterner Bahnhof fiel kurz aus. Goldstein richtete sich in einem
Abteil der ersten Klasse ein. Den Luxus, so zu reisen, hatte er
sich für die gesamte Rückfahrt gegönnt. Dass das
teure Billett ein großes Loch in seine Kasse riss, war ihm im
Moment egal. Er brauchte nach den Ereignissen der letzten Tage Ruhe
und wollte seine Gedanken sortieren. Dafür war eine
gepolsterte Bank sicher dienlicher als ein Holzsitz.
    Am frühen
Nachmittag traf der Anschlusszug aus Münster in Hamburg ein.
Bis zur Abfahrt des Schnellzuges nach Berlin hatte Goldstein noch
eine knappe Stunde Zeit. In einem nahe gelegenen Geschäft
erwarb der Polizist Schreibpapier und einen Bleistift und wartete
dann bei einem
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