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Fräulein Hallo und der Bauernkaiser

Fräulein Hallo und der Bauernkaiser

Titel: Fräulein Hallo und der Bauernkaiser
Autoren: Liao Yiwu
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Dürreperioden und sintflutartige Überschwemmungen lösen sich in bösartiger Regelmäßigkeit ab. Doch es gehört zur chinesischen Kultur, diese Katastrophen nicht einfach als Naturkatastrophen hinzunehmen: Schlechte Herrschaft lässt sich an ihnen ablesen. Der große Hunger folgte auf den von Mao propagierten
Großen Sprung nach Vorn
, der die größte Agrargesellschaft der Welt durch eine antibürokratische Massenmobilisierung zur Industrienation machen sollte. Dieser von oben propagierte und initiierte Voluntarismus, der sich von dem bürokratischen Weg der Sowjetgesellschaft zur Industrialisierung absetzen wollte, führte zu einer gigantischen Vernichtung der agrarischen Ressourcen, die das Überleben der ganzen Gesellschaft in Frage stellte. Wer es genauer wissen will, muss nur das Kapitel
Der Arbeitsgruppenleiter
nachlesen. Für den
Leichenschminker
allerdings bedeutet die Hungerperiode den geschäftlichen Durchbruch. Das scheinbar nebensächliche Geburtsdatum des Autors und die Begleitumstände seiner Geburt führen ins Zentrum der chinesischen Gesellschaft. Schon vor dem Sieg der kommunistischen Revolution wurde von dem exemplarischen Schriftsteller Lu Hsün [135] die chinesische Gesellschaft als eine kannibalische charakterisiert. Gerade weil Lu Hsün, ein Zeitgenosse Kafkas und Benjamins, von vielen kommunistischen Kulturpolitikern als nationaler politischer Musterschriftsteller gefeiert wurde, ist es Mode geworden, verächtlich über ihn zu reden. Die Nachwelt ist ähnlich ungerecht wie zu Maxim Gorki, der von Stalin hofiert, aber auch bis auf den Tod gequält wurde. Präsent ist bei beiden das Archaische der Agrargesellschaft zu einem Zeitpunkt rapider Urbanisierung. Die zivilisatorische Decke wird durchsichtig gemacht; das kannibalische Prinzip des Überlebens, Fressen und Gefressenwerden, scheint in den gesellschaftlichen Urkatastrophen wie der Hungersnot durch. Der Funktionär, der nun zum Rentner geworden ist, weiß genau, dass die Kannibalen, die seine Kommission um 1960 aufgespürt hat, nicht einfach moralisch zu verurteilen sind. Eine wesentliche Schuld trifft die Partei, also auch ihn, und das Gespräch mit Liao Yiwu gibt ihm die Gelegenheit, diesen petrifizierten Schrecken in den Bereich menschlicher Verantwortlichkeit zurückzuführen. Sein Schuldbekenntnis und seine Anklage sind nicht sinnlos.
    Auch das Gespräch mit dem
Konterrevolutionär
macht die Schande von Partei und Armee exemplarisch deutlich. Liao Yiwu hat 1989 , nach den Ereignissen auf dem
Tiananmen
, das Gedicht »Massaker« veröffentlicht. Das Benennen dieses Massenmordes an unbewaffneten Zivilisten als das, was es war, ist allein schon eine revolutionäre Tat, die von den Behörden als eine »konterrevolutionäre« verfolgt wird. Das kann einen nicht mehr schrecken, der die Schande als Lehrmeister gehabt hat, wie Liao Yiwu in seiner autobiographischen Selbstdarstellung von 2007 schreibt. Nicht nur hat der Hunger an seiner Wiege gestanden, sondern er ist von Geburt an in Ungnade gefallen – Ungnade, dieser Begleiter der Schande. Als Liao zur Schule kam, wurde sein Vater, ein Hochschullehrer in Yanting, Provinz Sichuan, von den Roten Garden als »Konterrevolutionär« gebrandmarkt. Seine Mutter auf der Flucht vor Verfolgung wurde zwanzig Jahre nach der Revolution als »entflohene Grundbesitzerin« wie eine geborene Konterrevolutionärin behandelt; ihr wurde zusammen mit ihren beiden Kindern ein permanenter illegaler Status »Person und Familie ohne Aufenthaltserlaubnis« in den Pass gedruckt. Solange die alten Passgesetze galten, die erst langsam mit den Reformen Deng Hsiao Pings außer Kraft gesetzt wurden, gab es keine Freizügigkeit in China. Doch dies war keine chinesische Besonderheit, sondern gehörte konstitutiv zum System parteikontrollierter Kommandowirtschaft, das Mobilität zugleich schuf und behinderte. Victor Zaslavsky hat in seiner bahnbrechenden Untergrundsoziologie der Sowjetgesellschaft [136] schon während der siebziger Jahre auf diese widersprüchliche gesellschaftliche Realität aufmerksam gemacht, die eine riesige Zahl von Menschen zu vielseitig erpressbaren Objekten von Ausbeutung und Unterdrückung macht. Die programmatisch geförderte Verwandlung der Gesellschaft in ein industrialisiertes Arbeitslager lässt den archaischen Charakter aller abhängigen Arbeit als Zwangsarbeit durchscheinen. Zahllose Gespräche Liao Yiwus machen auf diesen grundlegenden Sachverhalt sozialistischer Gesellschaft aufmerksam,
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