Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Fräulein Hallo und der Bauernkaiser

Fräulein Hallo und der Bauernkaiser

Titel: Fräulein Hallo und der Bauernkaiser
Autoren: Liao Yiwu
Vom Netzwerk:
endete, hielt für die chinesische Gesellschaft Katastrophen unvorstellbaren Ausmaßes bereit, die das Fassungsvermögen des Einzelnen übersteigen. Jeder Schriftsteller und Autor sucht verzweifelt nach unverbrauchten Worten, die der scheinbar unendlichen Wiederholung von Leid und Zerstörung gerecht werden. »Das ist China«, sagt einer der Gesprächspartner Liao Yiwus: »Solange du lebst, hast du wenig Kontrolle; aber wenn du stirbst, hast du nicht einmal Kontrolle über deinen eigenen Nachruf.« Die Vorstellung eines selbstbestimmten Lebens bleibt in der chinesischen Gesellschaft eine Utopie. Man kann das der erstickenden Allmacht der Kommunistischen Partei anlasten oder der erdrückenden Übermacht der chinesischen Tradition; aber die von Liao Yiwu gesammelten Gespräche ermöglichen es auch dem ahnungslosen westlichen Leser, genauer hinzuhören, was die chinesischen Menschen zu sagen haben. Man muss nicht die hundert wichtigsten Bücher über die fremde Kultur China gelesen haben, um »Fräulein Hallo und der Bauernkaiser« zu verstehen. Man muss nicht China oder Sichuan bereist haben, um zu begreifen, was die Gesprächspartner am Rande der Gesellschaft Liao Yiwu erzählen wollen. Man muss nicht Chinesisch lernen, um zu verstehen, wie das
short century
in China erfahren worden ist: All das voraussetzungslos zu vermitteln, das kann nur große Kunst. Liao Yiwu ist ein großer Erzähler der
condition humaine
, und die
condition humaine
ist chinesisch. Der westliche Leser kann sich im Fremden erkennen; auch seine Geschichte wird erzählt:
Tua fabula narratur
.
    André Malraux hat seinen Roman »So lebt der Mensch« 1933 zur gleichen Zeit formuliert wie Benjamin seinen fulminanten Essay »Der Erzähler« ( 1928 bis 1936 ). Malraux’ Blick fällt auf das revolutionäre städtische China von 1927 – sein Blickwinkel, trotz schneller und vielfältiger Perspektivwechsel, wird bestimmt durch den Romancier. »Die Geburtskammer des Romans ist das Individuum in seiner Einsamkeit…«, schreibt Benjamin. [133] Man muss schon nach Shanghai reisen und die wichtigsten Bücher über die chinesische Revolution gelesen haben, um Malraux’ Roman nicht als Illustration eines linken politischen Existentialismus misszuverstehen. Die Gesprächsform rückt den Erzähler Liao Yiwu in ein ganz anderes Licht als den kenntnisreichen europäischen Citoyen, der sich mit den chinesischen Revolutionären ebenso identifizieren kann wie mit einem aristokratischen französischen Spieler, der ihnen gegen sein Klasseninteresse selbstlos hilft. Liao Yiwu ist unter den chinesischen Gesprächspartnern einer von ihnen, der sich aber durch sein erzählerisches Interesse von ihnen auch unterscheidet. Sie nehmen ihn als ihresgleichen und zugleich auch als einen anderen wahr, der seine eigene individuelle Geschichte hat. Der Leser dieser durch Liao Yiwu vermittelten Geschichten hört einer Erzählung zu. »Wer einer Geschichte zuhört, der ist in der Gesellschaft des Erzählers; selbst wer liest, hat an dieser Gesellschaft teil.« [134] Der Leser von Malraux’ Roman bleibt einsam; wer Liu Yiwus Gespräche liest, lernt neue Leute kennen – fremde Leute, Chinesen, die aus den unterschiedlichsten Gründen am Rande der Gesellschaft leben.
    Aus guten Gründen ist Liao Yiwu selbst an diesen Rand geraten. Im Juni 2007 wollte der Schriftsteller einen vom unabhängigen chinesischen PEN -Zentrum verliehenen Preis in Beijing entgegennehmen. Der aus Chengdu angereiste Liao Yiwu wurde am Vorabend der Preisverleihung verhört und festgenommen, so dass nur noch die Dankesrede übrigblieb, die er hatte halten wollen. Klar und vornehm sind die Worte, mit denen der Preisgekrönte seinen
»
vier Lehrmeistern«
dankt: dem »Hunger«
, der »Schande«, der »Obdachlosigkeit« und dem
»
Gefängnis«. Die Rede gibt einen kurzen Lebensabriss, wie in Stein gemeißelt – in sich ein Kunstwerk von nahezu klassischer Schönheit. Der Hunger stand an Liaos Wiege. Als die Welt von Kubakrise und Mauerbau in Berlin redete, hungerte das größte Volk der Erde. Ein Kräuterarzt half seiner ausgehungerten Mutter, das Kleinkind am Leben zu halten – beeinträchtigt wurde sein Wuchs von Beginn an: Mit dem Hunger aufgewachsen, der von 1959 bis 1962 dauerte. Noch heute lieben es die Chinesen sich mit der Frage zu begrüßen, ob man heute schon gegessen habe. Überleben ist keine Selbstverständlichkeit, der Tod lauert überall. China ist ein katastrophengewöhntes Land: Todbringende
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher