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Fräulein Hallo und der Bauernkaiser

Fräulein Hallo und der Bauernkaiser

Titel: Fräulein Hallo und der Bauernkaiser
Autoren: Liao Yiwu
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agrarischer Vormoderne produzieren konnte: Petersburg und die endlose Steppe. An diesem Punkt setzt Walter Benjamins Reflexion auf den Erzähler Nikolai Ljeskow ( 1831 – 1895 ) und die russische Erzähltradition ein, die wegen der die Modernisierung begleitenden Erfahrungsarmut zu verschwinden droht. Diese Ungleichzeitigkeit von Allermodernstem und erschütterter Tradition könnte man in China als Widerspruch von Stadt und Land, im Yangtze-Tal als Gegensatz von internationalem Shanghai und provinziellem Sichuan sehen. Im modernen Sichuan selbst bildet sich dieser Gegensatz ab als unterschiedliche Lebenswelten von Metropole Chengdu, in der
Fräulein Hallo
ihr Auskommen sucht, und schwer zugänglichem Hinterland, in dem der
Bauernkaiser
sein Unwesen treibt.
    Der Untergrundsoziologe Liao Yiwu durchwandert auf seiner Flucht vor den Behörden, begleitet von seinen vier Lehrmeistern Hunger, Schande, Obdachlosigkeit und Gefängnis, das Land, und er erlernt das Handwerk des Erzählens. Die mit der Moderne einsetzende Erfahrungsarmut hatte Benjamin mit dem Verschwinden des Handwerks zu erklären versucht. »Der große Erzähler wird immer im Volk wurzeln, zuvörderst in den handwerklichen Schichten. Wie diese das bäuerliche, das maritime und das städtische Element in den vielfältigen Schichten ihres wirtschaftlichen und technischen Entwicklungsgrades umfassen, so stufen sich vielfältig die Begriffe, in denen sich für uns ihr Erfahrungsschatz niederschlägt.« [141] Die gesellschaftlichen Verhältnisse zwingen handwerklich hochentwickelte Künstler, sich als
Straßensänger
oder
blinde Erhu-Spieler
durchzuschlagen; andere definieren alte Berufe um. Aus dem traditionellen Heiratsvermittler wird der
Menschenhändler
, aus dem Theatermann der
Leichenbestatter
. Andere Berufe werden erfunden und schaffen Orte, an denen man neue Geschichten zu hören bekommt: das öffentliche Klo. Selbst Bildung, diese Trümmer traditionaler Gelehrsamkeit, kann nützen; sie ermöglicht es Liao Yiwu, in den fiktionalen Ausschmückungen des
Bauernkaisers
das Fortwirken der literarischen Tradition zu erkennen. Seine Lebenserfahrung gibt Liao Yiwu die Möglichkeit, auf der Suche nach der Wahrheit über das chinesische Leben das Volk nicht zu idealisieren, sondern seine Vielfalt zur Sprache zu bringen. Das Volk, das Liao Yiwu sichtbar macht, ist keine uniforme Masse, sondern es besteht aus unterschiedlichsten Menschen – es gibt Frauen mit ganz eigenen, individuellen Lebensgeschichten, Liebespaare, die sich dem Kollektivzwang nicht beugen oder daran zerbrechen, nationale Minderheiten, die nach einem eigenen Platz – und sei es als Diebe – suchen oder in der Masse der Hanchinesen untertauchen wollen. »Ja, man kann weitergehen und sich fragen, ob die Beziehung, die der Erzähler zu seinem Stoff hat, dem Menschenleben, nicht selbst eine handwerkliche Beziehung ist? Ob seine Aufgabe nicht darin besteht, den Rohstoff der Erfahrungen – fremder und eigener – auf eine solide, nützliche und einmalige Art zu bearbeiten?« [142] Die Sammlung
Fräulein Hallo und der Bauernkaiser
formt das scheinbare Zufallssample am Rande der Gesellschaft zu einem Gesamtbild der chinesischen Gesellschaft in Zeiten einer fundamentalen Welterschütterung, in denen die
Ups and Downs
des Lebens unvermittelt nebeneinander zu finden sind. Benjamin fragte inmitten des europäischen Massenelends 1921 : »Wer trifft noch auf Leute, die rechtschaffen etwas erzählen können?« [143] Die Leser von
Fräulein Hallo und der Bauernkaiser
können zu Beginn des 21 . Jahrhunderts antworten: Liao Yiwu in Sichuan.
     
    Detlev Claussen, geboren 1948 in Hamburg, studierte Philosophie, Soziologie, Literatur und Politik in Frankfurt (u.a. bei Theodor W. Adorno); Promotion 1975 , Habilitation 1985 , Publizist und Professor für Gesellschaftstheorie, Kultur- und Wissenschaftssoziologie an der Universität Hannover. Detlev Claussen kennt China und besonders die Provinz Sichuan von zahlreichen Reisen. Zuletzt veröffentlichte er bei S. Fischer eine international hochgelobte Adorno-Biographie (»Theodor W. Adorno. Ein letztes Genie«).

Über Liao Yiwu
    Liao Yiwu, geboren 1958 in der Provinz Sichuan, wuchs als Kind von Eltern »ohne dauerhafte Aufenthaltserlaubnis« in der großen Hungersnot der 60er Jahre auf. 1989 verfasste er das Gedicht ›Massaker‹, das in Windeseile Verbreitung fand, auch über die Grenzen Chinas hinaus. Hierfür wurde er vier Jahre inhaftiert und schwer
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