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Fräulein Hallo und der Bauernkaiser

Fräulein Hallo und der Bauernkaiser

Titel: Fräulein Hallo und der Bauernkaiser
Autoren: Liao Yiwu
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Rotgardisten kehrten in die Städte zurück. Sie gehörten in revolutionärer Verkleidung, mit grüner Jacke und roter Armbinde, zu einer jugendlichen urbanen Protomittelschicht, die sich am Beginn der Kulturrevolution in Ausbildungsinstitutionen befand, später aufs Land verbannt den Lehrmeistern Schande und Gefängnis unterworfen wurde und nun auf ein verpfuschtes Leben zurückblickt. Der
alte Rotgardist
kann sich freuen, wieder in die Stadt, nach Chengdu, zurückgekehrt zu sein; aber anders als sein Gesprächspartner hat er nicht viel gelernt und muss die Zukunft fürchten. Das boomende Chengdu mit seinen über zehn Millionen Einwohnern gerät mit der Wirtschaftskrise jetzt, im Jahre 2009 , in Gefahr; eine Ahnung, dass das chinesische Wirtschaftswunder der letzten zwanzig Jahre auf tönernen Füßen steht, haben Liao Yiwus Gesprächspartner alle. Die Vergangenheit ist auch in China nicht vergangen.
Fräulein Hallo
lebt vom Vergessen und vom Willen der Chinesen zum Vergessen. Der Terror, wie wir schon aus der Sowjetunion wissen, fördert diesen Wunsch zu vergessen. Die Erinnerung an das vergangene Leid erfordert mühselige Arbeit, während die neue Gesellschaft auch den Chinesen endlich Spaß verspricht. Lässt sich die Vergesslichkeit westlicher und östlicher Gesellschaften miteinander vergleichen? Die flächendeckende Popkultur, die mit der Verbreitung des Fernsehens im Westen während der frühen sechziger Jahre des
short century
einherging, versprach den »Kindern von Marx und Coca-Cola« eine Befreiung vom Alp der Vergangenheit durch einen neuen Lebensstil. Der wachsende Wohlstand in Nordamerika und Westeuropa während des Golden Age von 1950 bis 1973 lieferte die Grundlagen dieser vergesslichen Spaßgesellschaft, deren Charakter auch Herbert Marcuses »Eindimensionaler Mensch« zu fassen versucht. Die chinesische Gesellschaft erlebte in dieser Zeit die rasche Abfolge der maoistischen Kampagnen; ein ungeheures Nachholbedürfnis staute sich auf. So paradox es klingt: Trotz aller verheerenden katastrophalen Folgen des voluntaristischen Kampagnensozialismus wurden während dieser Zeit Grundlagen für die Modernisierung Chinas gelegt – wie der Stalinismus in der Sowjetunion bedeutete der Maoismus in China eine Modernisierung in barbarischer Form. [139]
    Jede Modernisierung ist auch ein Werk der Zerstörung. Im Westen gingen über fünf Jahrhunderte säkulare Schreckensperioden der gesellschaftlichen Moderne voraus: Ursprüngliche Akkumulation und zwanzigjähriger Bürgerkrieg erzeugten im Mutterland der »Bill of Rights«,
England, einen Schrecken, der noch im »Leviathan« von Thomas Hobbes nachzittert. Aus diesen Jahrhunderten der Furcht, die auf dem europäischen Kontinent von den Grausamkeiten des Dreißigjährigen Krieges 1618 bis 1648 begleitet wurden, sind auch die Bedürfnisse nach einem schützenden Recht hervorgegangen. »Habeas Corpus«, mit dem 1679 die modernen Bürgerrechte in England verwirklicht zu werden begannen, ist aus der Sicht Liao Yiwus und seiner Gesprächspartner eine konkrete Utopie. Auf die erwähnten Schrecken folgte in Europa ein Prozess der Enttraditionalisierung, der von der unwiderstehlichen Gewalt der industriellen Revolution beschleunigt wurde. In Russland und in China werden diese Prozesse fünfhundertjähriger Entwicklung auf ein Jahrhundert zusammengezogen. Die Machteroberung der kommunistischen Partei stand am Ende eines schier endlosen Chaos von Taiping-Revolution bis zum Boxeraufstand, von Massenelend, Bürgerkrieg, Warlordismus und japanischer Invasion. Erst aus diesem antijapanischen Kampf konnte die Rote Armee nationale Legitimation und gesellschaftliche Akzeptanz gewinnen. Die Auflösung des »spättraditionalen China« (Jürgen Osterhammel [140] ) beginnt schon lange vor 1949 am Ende der Qing-Dynastie im späten 19 . Jahrhundert. Sie führte zur Massenemigration aus Südchina in die sich kapitalistisch entwickelnde Welt. Neben der Ungleichzeitigkeit muss man auch die Gleichzeitigkeit gesellschaftlicher Entwicklung reflektieren, die André Malraux die
condition humaine
als eine chinesische formulieren ließ. Lu Hsün, der Zeitgenosse Franz Kafkas, machte entscheidende Modernisierungserfahrungen wie der Begründer der Kuomintang Dr. Sun Yat Sen im japanischen Exil der Jahrhundertwende zum zwanzigsten Jahrhundert. Vergleichen ließ sich China mit Russland, in dem die autokratische Herrschaft eines Riesenreiches das Nebeneinander von modernster urbaner Entwicklung und
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